Chinatown und Little Italy sind in New York ein Begriff, fast jeder kennt die Gegenden, Einheimische wie Touristen. Und Kleindeutschland? Nahezu unbekannt. Dabei bildeten die Deutschen, die seit ungefähr 1830 in New York einwanderten (die meisten als Wirtschaftsflüchtlinge), die erste Gruppe von Immigranten, die in der Neuen Welt ihre kulturelle Eigenart beibehielten: mit Schützenvereinen, Kirchen, Zeitungen, Brauereien, Wirtshäusern, Synagogen.
Jawohl, es war eine Parallelgesellschaft – bunt, lebendig und selbstbewusst. Ganze Straßenzüge gab es, in denen nur Deutsch gesprochen wurde; Kinder, die mit Bratwurst, Spätzle und Rotkohl aufwuchsen. Um 1840 zählte man schon ungefähr 24.000 Deutsche am Hudson, 1880 machten sie rund ein Viertel der Bevölkerung aus. Man kann es auch anders sagen: Die Deutschen waren in New York früher mal das, was heute die Türken in Berlin sind – die dominante Subkultur.
Dabei unterschieden sie sich in einer bemerkenswerten Hinsicht von den anderen Immigrantengruppen: Die Deutschen gehörten keiner bestimmten Konfession an. Die Iren, die auf sie folgten, waren verlässlich katholisch, die Skandinavier meist evangelisch, die Russen beinahe durchweg orthodox. Aber die Deutschen waren alles Mögliche: Katholiken, Protestanten, Juden. Sie sortierten sich nicht nach der Konfession, sondern nach Landsmannschaften – Bayern gesellten sich zu anderen Bayern, Hessen zu Hessen.
Ein Stadtplan führt an deutsche Orte
Kleindeutschland lag im Südosten Manhattans, das Zentrum war der Tompkins Square Park. Ein neuer, hübsch aufbereiteter Stadtplan holt dieses Stadtviertel und die Geschichte dahinter jetzt aus der Versenkung empor, eine Initiative des Deutschen Generalkonsulats. Der Schweizer Comic-Künstler Simon Kiener hat insgesamt 29 Sehenswürdigkeiten mit sicherem Strich verzeichnet: Der Stadtplan führt den Touristen von einem historischen Gebäude zum nächsten.
Man kann den Rundgang bei der Nummer eins beginnen, dem früheren Gebäude der Germania Bank (Bowery/Ecke Spring Street) und dann chronologisch weiterspazieren. Oder man beginnt an der Ottendorfer Library (135–127 Second Avenue), der ältesten Zweigstelle der öffentlichen New Yorker Bibliothek.
Ihren Namen hat sie von Oswald Ottendorfer, der einer wichtigen Gruppe von deutschen Immigranten angehörte: Er war ein sogenannter Achtundvierziger, ein überzeugter Demokrat, der nach der gescheiterten Revolution von 1848 vor politischer Verfolgung floh. In New York machte er die deutschsprachige „New Yorker Staats-Zeitung“ zur drittgrößten Tageszeitung der Stadt, die zu ihrer besten Zeit um 1886 rund 60.000 Exemplare verkaufte.
Gleich neben der Bibliothek, die auch innen sehr schön ist, liegt ein Haus mit der Aufschrift „Deutsches Dispensary“. Im heutigen Jargon ist eine Dispensary ein Ort, an dem man legal Marihuana erwerben kann; damals verstand man darunter ein Armenkrankenhaus. Von Anfang an kümmerte sich Kleindeutschland auch um die sozial Bedürftigen.
Wer eine Ahnung haben will, wie Kleindeutschland politisch tickte, spaziert ein paar Straßen weiter zum „Turn Verein“ (66–68 East 4th Street). Mag sein, dass hier auch geturnt wurde; vor allem aber trafen sich hier Sozialisten und sprachen über die kommende Weltrevolution. Zwischendurch wurde hier Theater gespielt, und nicht nur auf Deutsch: 1882 erlebte hier Abraham Goldfadens „Koldunya“ seine Uraufführung, das erste jiddische Stück, das auf amerikanischem Boden gespielt wurde. Später sprach hier die berühmte Anarchistin Emma Goldman.
Natürlich waren die Deutschen in New York nicht allesamt Revolutionäre. Die meisten waren Handwerker, Bäcker, Brauer, Zigarrendreher, kleine Leute; geprägt durch die Erinnerung an 1848, ihr Herz schlug verlässlich links. Anhänger von Bismarck wohnten hier eher nicht. An der Fassade der Deutsch-Amerikanischen Schützengesellschaft (12 St. Marks Place) steht: „Einigkeit macht stark“.
Warum der Brunnen in New York landete
Nicht alle Bauten, die an die deutschen New Yorker erinnern, stehen im Südosten Manhattans. Das großartigste Monument ist ohnehin nicht zu übersehen: Die gewaltige Brooklyn Bridge – entworfen von dem Hegelianer Johann August Roebling, der die gotischen Bogenfenster der Divi-Blasii-Kirche aus seinem Heimatort Mühlhausen in Thüringen in den Brückenpfeilern aufgriff.
In der Upper East Side (6 East 87th Street) liegt der Liederkranz Club, der noch heute Konzerte mit Liedern von Schubert und Mendelssohn veranstaltet. Und in der Bronx findet man den Loreleybrunnen, der an Heinrich Heine erinnert (East 161st Street am Grand Concourse).
Eigentlich sollte dieser Brunnen in Düsseldorf stehen, aber die Düsseldorfer verziehen dem Dichter nicht, dass er ein (wenn auch getaufter) Jude war. Daraufhin gründete eine Gruppe von Deutschamerikanern, unter ihnen der Revolutionär Carl Schurz, die Heine Memorial Association, und so wurde der Brunnen 1899 in New York aufgestellt.
Schurz war ein hochinteressanter Mann: Er nahm in Baden an der Revolution von 1848 teil, floh erst in die Schweiz, dann nach Großbritannien, emigrierte in die Vereinigten Staaten, wurde Mitarbeiter von Abraham Lincoln, hasste die Sklaverei, diente als General im Bürgerkrieg, wurde Senator und schließlich Innenminister; in dieser Funktion unterstellte er die Politik gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern den zivilen Behörden.
Die größte Katastrophe vor dem Terroranschlag 2001
Warum gibt es heute kein Kleindeutschland mehr? Warum sind die einzigen Überbleibsel die Feinkosthandlung „Schaller & Weber“ (1654 Second Avenue) und gleich daneben das Restaurant „Heidelberg“ (1648 Second Avenue), in dem mit Sauerbraten und Jägerschnitzel verlässlich deutsche Klischees serviert werden?
Die Antwort findet sich im Tompkins Square Park: Dort steht der Gedächtnisbrunnen für die größte Katastrophe, die New York vor dem Terroranschlag vom 11. September 2001 heimsuchte. Am 15. Juni 1904 brach die „General Slocum“, ein Raddampfer, zu einem Ausflug auf dem East River auf; an Bord war eine evangelisch-deutsche Kirchengemeinde. Mitten auf dem East River brach an Bord ein Brand aus: Mehr als 1000 Menschen sind an diesem Tag verbrannt, erstickt, ertrunken, vor allem Frauen und Kinder.
Die Überlebenden, hauptsächlich Männer, die an diesem Tag arbeiten mussten, ertrugen die Erinnerung nicht. Viele Hinterbliebene nahmen sich das Leben, andere zogen weg. Immerhin ein Gutes hatte diese Katastrophe: Bei den Prozessen, die hinterher geführt wurden, stellte sich heraus, dass Rettungsringe wie Steine im Wasser versunken und Inspekteure bestochen worden waren. In der Folge wurden in New York zum ersten Mal ein verbindliches Sicherheitsregime eingeführt. Den Überlebenden half das natürlich nicht mehr.
Als sich 1917 im Ersten Weltkrieg eine brutale antideutsche Stimmung in den USA bereitmachte, Beethovens Noten öffentlich verbrannt wurden und deutsche Kriegsgegner ihre Bürgerrechte verloren, existierte Kleindeutschland schon nicht mehr. Es hatte sich längst in alle Winde verstreut. Ein trübes Nachleben führte das Stadtviertel dann viel später in der Upper East Side: Dort hatte in den 1930er-Jahren der German Bund viel Zulauf, eine amerikanische Nazi-Organisation, die 1939 im Madison Square Garden eine Versammlung mit 20.000 Teilnehmern abhielt, bei der Hakenkreuzflaggen wehten.
Vom ursprünglichen Kleindeutschland, dem lebendigen, bunten und menschenfreundlichen, bleibt nur noch eine Erinnerung. Und dieser Stadtplan.
Die Karte ist kostenlos erhältlich im Deutschen Generalkonsulat New York (871 United Nations Plaza), sowie in einigen New Yorker Public Libraries, etwa in der Ottendorfer Library auf der Second Avenue sowie der Library am Tompkins Square Park.