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Kriminalitätsbekämpfung

„Die Clans angreifen wie die Mafia!“

Von Till-Reimer Stoldt
Veröffentlicht am 11.06.2024Lesedauer: 6 Minuten
Das Foto zeigt Polizisten, die mehrere junge Männer, Mitglieder einer Clan-Gruppe, nach einer Schlägerei in der Essener Innenstadt bewachen.
Essener Polizisten bewachen Clan-Mitglieder nach einer Schlägerei: Laut Experten wurde im Kampf gegen kriminelle Clans bislang „nur an der Oberfläche gekratzt“Quelle: picture alliance/dpa/Markus Gayk

Stößt die Strategie im Kampf gegen Clan-Kriminelle an Grenzen? Das legt eine Bilanz der Polizeiarbeit im Clan-Hotspot Essen nahe. Auch bisherige Unterstützer des Konzepts der „1000 Nadelstiche“ fordern nun einen Strategiewechsel: hin zur Orientierung am italienischen Anti-Mafia-Kampf.

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Rund 50 Clan-Angehörige prügelten vergangene Woche in einem Essener Restaurant aufeinander ein – Stühle wurden geworfen, Macheten und Stichwaffen kamen zum Einsatz. Über 100 Polizisten eilten herbei, unterstützt von Beamten aus Nachbarstädten und einem Hubschrauber. Anschließend folgten lange Verhöre. Doch die vernommenen Clan-Angehörigen halfen der Polizei mit keinem Wort, Straftaten aufzuklären.

Kurz: Es war wie eigentlich immer – zum Beispiel wie in der Vorwoche, als zahlreiche Männer einander mit Messern und Pistolen über einen Essener Fußballplatz jagten. Auch dort kam die Polizei mit etwa 150 Mann hinzu. Oder wie in der Vor-Vorwoche, als sich Clan-Angehörige vor einem anderen Essener Restaurant prügelten. Und so könnte man noch auf viele Krawalle mit oft Hunderten von Beteiligten zurückblicken.

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Der Staat kratzt „nur an der Oberfläche“

Es scheint, als stieße die bisherige Strategie im Kampf gegen Clan-Kriminalität an Grenzen – in Deutschland, in NRW, insbesondere aber in einer der drei bundesweiten Clan-Hochburgen: in Essen. Manche Polizei-Experten fordern daher erstmals eine Abkehr von NRW-Innenminister Herbert Reuls Konzept der „1000 Nadelstiche“ – und stattdessen die Ausrichtung am italienischen Anti-Mafia-Kampf.

Für Erich Rettinghaus, Landeschef der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), „ist es nicht länger tragbar, dass die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Clans nur an der Oberfläche kratzen, sodass die Kriminellen den Staat nicht ernst nehmen“. Auch Oliver Huth, Landesvorsitzender vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), hat seine Zweifel, ob die Nadelstich-Strategie in dieser Form der Weisheit letzter Schluss ist. Er rät CDU-Minister Reul im Gespräch mit dieser Zeitung, umzusteuern und vor allem die Kriminalpolizei deutlich zu stärken.

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Die vermeintliche Wunderwaffe von 2018

Dabei wurde in Essen vor fünf Jahren eine Polizeieinheit geschaffen, die bundesweit als eine Art Wunderwaffe im Kampf gegen Clans gefeiert wurde: die „besondere Aufbauorganisation Clan“ (BAO). Ihre Beamten widmen sich ausschließlich den Clans. Sie sind eng vernetzt mit Finanzbehörde, Kommune, Staatsanwaltschaft, Bezirksregierung, Zoll, Bundespolizei. Und sie setzen auf permanente Kontrolle. Mehrfach pro Woche besuchen sie zu unterschiedlichen Zeiten Cafés, Bars und andere Szenetreffs. „Durch engmaschige Kontrolle stehen wir den Clans auf den Füßen“, so fasst dies ein Polizeisprecher gegenüber dieser Zeitung zusammen.

Zudem identifizierte die BAO zwei weitere Schritte als zentral: Der Schutz von Zeugen müsse verbessert werden, weil deren Einschüchterung durch Clans die Aufklärung so erschwere. Und: Es müssten endlich Clan-Angehörige erfolgreich zum Ausstieg ermutigt werden.

Bescheidene Bilanz im Kampf gegen kriminelle Clans

Doch die anvisierten Erfolge lassen auf sich warten. Gewaltig verändert hat sich in Essen nur eins: der Personalaufwand. Die Zahl eingesetzter Polizisten schoss in die Höhe von 940 (2018) auf 5211 (2022), die der Ordnungsamt-Mitarbeiter von vier auf 247. Auch die Zahl der Identitätsfeststellungen schnellte hoch von 3789 auf 8146, die der Anhalte-Kontrollen von 1978 auf 4398.

Bei diesen über 12.000 Kontrollakten machten die gut 5500 Einsatzkräfte jedoch magere Beute: So wurden 2022 in nur 13 Fällen Fahrzeuge, in 25 Fällen Waffen (meist Messer), in 63 Fällen Betäubungsmittel beschlagnahmt. Die Zahl registrierter Straftaten in Essen lag mit 736 wenig höher als 2018 (730) – was bei verstärkten Kontrollen überrascht. Wer viel mehr Personal einsetzt, findet üblicherweise auch viel mehr.

Inwieweit der Zeugenschutz verbessert wurde, beantwortet Essens Polizei auf Anfrage nicht. Das übernimmt DPolG-Chef Rettinghaus. WELT sagte er, „die Zeugen werden weiterhin von Clans unter Druck gesetzt, das ist leider Standard“. Daran werde sich nichts ändern, „solange die Identität von nichtpolizeilichen Zeugen im Gerichtsprozess genannt werden muss“.

Eiserner Zusammenhalt der Clan-Familien

Klare Antworten blieb Essens Polizei auch auf die Frage schuldig, ob es seit 2018 gelungen sei, Clan-Mitglieder zum Ausstieg zu bewegen oder zu Informanten zu machen. Oliver Huth vom BDK bestreitet dies. „An die maßgeblichen Strukturen der Clans kommt man nicht heran. Die sind alle so familienorientiert wie die ’Ndrangheta in Italien. Bei keinem anderen Mafia-Clan gibt es so wenige Kronzeugen. Onkels oder Cousins werden nun mal nicht verraten. Das gilt leider auch für unsere Clans“.

Und Rettinghaus ergänzt, „gerade bei den immer stärkeren Syrer-Clans“ sei „die familiäre Verbundenheit so stark, dass es nahezu unmöglich ist, dort einzudringen“. Selbst ein Sprecher der Polizei räumt ein, die Familien schotteten „sich von der Gesellschaft ab“, sie seien „geprägt von einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl“ mit „verfestigten Familienstrukturen“.

Den Verfassungsschutz ansetzen – wie gegen die Mafia

Doch die Politik hat noch lange nicht alles ihr Mögliche unternommen im Kampf gegen Clans, meinen die Experten. Für Rettinghaus besteht neben dem verbesserten Zeugenschutz ein entscheidender Schritt darin, dass Bund und Länder den Verfassungsschutz (VS) auf die Clans ansetzen.

Denn Verfassungsschützer haben gegenüber der Polizei einen Vorteil: Begehen observierte Personen unter den Augen der VS-Leute eine Straftat, müssen VS-Leute diese nicht verhindern. Anders die verdeckten Ermittler der Polizei: Sie sind zum Eingreifen verpflichtet, sobald Straftaten geschehen. Clan-Kriminelle überprüfen deshalb laut Rettinghaus, ob sie beschattet werden, indem sie zu Testzwecken kleine Straftaten begehen. Dann müssen die Ermittler sich outen. Der VS dagegen könnte im Hintergrund bleiben. Und Erkenntnisse in gewissen Grenzen an die Polizei weiterleiten – so, wie das in Bayern bereits geschieht. Dort werden Mafia-Clans vom Verfassungsschutz beobachtet.

Observation statt Nadelstiche

Einen weiteren von Experten ersehnten Strategiewechsel benennt BDK-Landeschef Huth: Die Polizei müsse „alles daran setzen, Clans als kriminelle Vereinigungen einzustufen, wie sie im Strafrecht definiert werden“. Dann könne man alle Helfershelfer der Clan-Straftäter als Kriminelle behandeln. Ein Beispiel: Das Versicherungsbüro eines Clan-Angehörigen, das Autos von Clan-Drogenkurieren versichert, würde sich dann – aber auch nur dann – strafbar machen. Dieses Vorgehen hat den italienischen Behörden Erfolge gegen die Mafia-Clans beschert.

Doch eine kriminelle Vereinigung liegt erst vor, wenn die Gruppe als Einheit agiert, Willen zur Vereinigung zeigt, einem Regelwerk und Anführer folgt. Um dies nachzuweisen, müssten die Clans intensiver observiert, abgehört und ihre Strukturen in der Tiefe durchleuchtet werden, sagt der BDK. Weshalb er vereinfachte Abhörmöglichkeiten fordert – wofür der Bund zuständig ist – und deutlich mehr Personal für diese Durchleuchtung, was Sache des Landes wäre.

Mit Tiefenanalysen angreifen – ebenfalls wie gegen die Mafia

„Die vielen tausend Einsatzkräfte, die auf der Straße sind, um den Kontrolldruck hochzuhalten, brauchen wir bei der Kripo, um Clan-Strukturen zu analysieren“, sagt Huth. „Wir müssen sie angreifen wie die italienischen Behörden die Mafia.“

Das aber würde einen Erfolg der Nadelstich-Strategie gefährden. Denn unbestritten treten die Clans öffentlich inzwischen weniger provokant auf. Würden die Nadelstiche reduziert und mehr Kräfte aufs Abhören verlegt, könnte sich das ändern. Aber welche Alternative bleibt sonst? Die Zahl jährlicher Polizei-Neueinstellungen (derzeit 3000) lässt sich schwerlich steigern, schon weil es an qualifizierten Bewerbern mangelt. Reul könnte noch mehr Polizisten aus anderen Bereichen abziehen. Bleibt die Frage: wo?