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Artikeltyp:MeinungKampf gegen Übergewicht

Sorgt für gesunde Ernährung, wo Ihr es könnt!

Von Till-Reimer Stoldt
Veröffentlicht am 06.03.2023Lesedauer: 4 Minuten
Übergewicht und Adipositas: Politik engagiert sich nicht ausreichend
Übergewicht führt zu zahllosen Leidensgeschichten – doch die Politik unternimmt in ihrem Zuständigkeitsbereich noch immer zu wenig dagegen, meint Till-Reimer StoldtQuelle: Getty Images/Photodisc/Steven Puetzer, Catrin Moritz

15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig. In Kitas und Schulen bräuchten sie endlich ein gesundes Ernährungsangebot. Um dieses müsste die Politik sich kümmern. Stattdessen streiten die Parteien lieber über ein Werbeverbot.

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Ist gesunde Ernährung für Kinder so unwichtig? Die Frage drängte sich auf – nach dem Vorstoß des grünen Ernährungsministers Cem Özdemir. Er wirbt dafür, an Kinder adressierte Süßigkeiten-Werbung zu verbieten (speziell, wenn die Süßigkeiten als Frühstück beworben werden). Doch die Reaktionen darauf irritierten.

Aus der FDP wurde die Idee so vehement verworfen, als seien Chips und Gummibärchen frühstückende Kinder eine schutzwürdige Minderheit. Aber auch der grüne Applaus für Özdemirs Vorstoß fiel so frenetisch aus, als sei das Verbieten der goldene Pfad schlechthin. Beide Reaktionen wirkten in ihrer Überzogenheit unernst – als nutzten da zwei Weltanschauungs-Stämme die Gelegenheit, um aufeinander einzudreschen und ihre im Guten oder Schlechten obsessive Beziehung zum Verbieten auszuleben.

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Noch stärker ernüchtert allerdings ein Vergleich dieser passionierten Rhetorik mit der dürftigen Praxis in Bund und Ländern. Denn die belegt, unabhängig von der Couleur der jeweiligen Regierung, wie nachrangig das Ziel gesund ernährter Kinder bislang war. Und – mit Abstrichen – noch immer ist.

Die Weichen für oft lebenslange Leidensgeschichten

Um zu verdeutlichen, was hier auf dem Spiel seht, sei an ein paar Fakten erinnert: Seit Jahren beklagen Mediziner und Ernährungswissenschaftler, etwa 15 Prozent der Kinder in Deutschland seien übergewichtig, rund sechs Prozent adipös, also ausgeprägt fettleibig – mit der Folge, dass sie es oft ein Leben lang bleiben. Ja, die Weichen einer lebenslangen Leidensgeschichte werden früh gestellt; die Weichen für Herz-Kreislauf-Leiden, Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkschäden, übergewichtsbedingte Infarkte, Schlaganfälle oder Krebserkrankungen. Allein in NRW werden pro Jahr rund zehntausend Menschen in Kliniken oder Rehabilitationen als Folge ihrer Fettleibigkeit behandelt.

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Doch allen Aufklärungskampagnen zum Trotz will sich keine Trendwende einstellen. Primär liegt das an Kindern bildungsferner und einkommensarmer Familien (häufig mit Migrationsgeschichte). Ihr Anteil an den Übergewichtigen steigt konstant, während der von Kindern aus Mittelschichtsfamilien sinkt.

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Seit rund 15 Jahren verweisen Forscher und Politik nun auf einen, nein den entscheidenden Ansatz: Die Ernährung in Kitas und Schulen. Denn immer mehr Kinder verzehren den Großteil ihrer Mahlzeiten in Kita, Grund- und weiterführender Schule. Bei Kindern bis zu zehn Jahren traf das bereits 2019 auf über 80 Prozent zu. Auch 89 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland haben zumindest die Möglichkeit, eine warme Mittagsmahlzeit in der Schule einzunehmen. Wer in Kindern einen Sinn für vollwertige, frische Kost entwickeln möchte, sollte demnach die Mahlzeiten in Kita und Schule schnellstmöglich auf ein hohes Niveau bringen.

2008 wurden zu dem Zweck erstmals Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für Schulen und bald darauf für Kitas entwickelt. Um diese Standards umzusetzen, wurden in allen Ländern Vernetzungsstellen für Schul- und Kitaverpflegung geschaffen – die vom Bund und den Ländern finanziert und gefördert werden.

Doch was haben Bund und Länder in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten unternommen, um diese guten Ansätze zum Erfolg zu führen? Bei Weitem nicht genug. Dort, wo es ihre ureigenste Aufgabe gewesen wäre, in öffentlichen Kitas und Schulen, war ihnen die Aufgabe plötzlich zu groß. Cem Özdemir räumte jüngst ein, die DGE-Qualitätsstandards hätten sich zwar bewährt und böten „eine gute Grundlage für eine ausgewogene und umweltverträgliche Verpflegung“.

Elementare Standards für gesunde Ernährung noch nicht verbindlich

Befolgt werden sie deshalb aber noch lange nicht. Im Gegenteil: 15 Jahre nach ihrer Einführung räumt der Minister ein, auch weiterhin müsse die Politik noch dafür kämpfen, „dass dieser Standard umgesetzt wird.“ Selbst elementare Standards sind noch immer nicht verbindlich. Ob und wann sie es werden, ist unklar. Auch in den Ländern kommt man um dieses Eingeständnis nicht herum.

Immerhin: In einigen Ländern wie NRW erwägen die Regierenden derzeit, ob sie „die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung“ womöglich als „Leitlinien für Kita- und Schulküchen“ nutzen sollten. Sie erwägen! Das wäre ein akzeptabler Anfang gewesen – vor 15 Jahren. Im Jahr 2023 aber bezeugt dies eher, wie nachrangig das Ziel gesund ernährter Kinder in der Praxis bislang war.

Aber auch der Versuch, die Nahrungsqualität ohne gesetzlichen Zwang zu steigern, nämlich durch die beratenden und ermutigenden Vernetzungsstellen, ist stecken geblieben. Aus etlichen Bundesländern war inzwischen wie jüngst aus NRW das Eingeständnis zu hören, dass „diese Ansätze nicht flächendeckend umgesetzt werden“ konnten. Die Regierenden in Bund und Ländern sollten lieber eine konzertierte Aktion „gesunde Kita und Schule“ starten – anstatt sich einen medienaffinen Weltanschauungskrieg um ein Werbeverbot zu liefern.