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Wahlkampf vor der Haustür

„Wir erleben ein wachsendes Abwenden der Bevölkerung vom Staat“

Autorenprofilbild von Jana Werner
Von Jana WernerFreie Autorin
Veröffentlicht am 26.05.2024Lesedauer: 9 Minuten
James Robert - Jimmy Blum, FDP Mitglied der Bezirksversammlung Hamburg Mitte
Bezirk, Bürgerschaft, Senat? Der FDP-Politiker Jimmy Blum möchte Hamburg mitgestaltenQuelle: Bertold Fabricius

Was Bund und Land entscheiden, wird in Kommunen und Gemeinden sichtbar. Dort beginnt die demokratische Mitbestimmung im Staat – und ebenso der Vertrauensverlust in die Politik. Auf dem Weg zur Bezirkswahl in Hamburg werden Kandidaten wie Jimmy Blum mit Verdruss konfrontiert.

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Kurz bevor Jimmy Blum eine Patisserie in der Hafencity betritt, postet er flugs noch einen Videoschnipsel an seine TikTok-Gemeinde – das Smartphone in die Höhe gereckt, während die pulsierende Metropole an ihm vorbeirauscht. Für das Gespräch mit WELT AM SONNTAG war er extra beim Friseur – nur ein Detail, das er mit seinen Tausenden Followern ebenso teilt wie die Fortschritte seiner Gesichtsstraffung, den Überlebenskampf seines Hundes Rudi mit dem Eichenprozessionsspinner oder Neuigkeiten vom Runden Tisch zur Umgestaltung des Wochenmarktes im Stadtteil Billstedt. „Ich gebe viel preis, weil ich die Menschen teilhaben lassen möchte – an meinem Leben, an meiner Politik“, sagt Blum – und ergänzt: „Ich habe ein buntes, schönes Leben. Das zeige ich auf allen Kanälen.“

Jimmy Blum ist FDP-Mitglied und sitzt seit 2019 in der Bezirksversammlung Hamburg-Mitte – ein ehrenamtlicher Verwaltungsausschuss, wie ihn jeder der sieben Bezirke des Stadtstaates unterhält, um die Probleme vor Ort anzupacken. Spielplätze werden gebaut, Parks angelegt und Baustellen eingerichtet. Was kleinteilig erscheint, ist oftmals Folge von Entscheidungen in Land und Bund. Vor der Haustür, in den Kommunen und Gemeinden, werden die praktische Arbeit, die Fähigkeit zu Kompromissen und das Ergebnis von Abstimmungen unmittelbar sichtbar, dort beginnt die demokratische Mitbestimmung im Staat, aber auch der Vertrauensverlust in die Politik.

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Entsprechend gespannt blickt Hamburg auf den 9. Juni, an dem 1,4 Millionen Wahlberechtigte – neben der Europawahl – die Bezirksversammlungen in Altona, Bergedorf, Eimsbüttel, Harburg, Mitte, Nord und Wandsbek neu aufstellen – und zudem ein Stimmungstest für die Bürgerschaftswahl 2025 liefern.

Auf den sieben Bezirkswahllisten gehen insgesamt 1400 Kandidaten ins Rennen, unter ihnen eben James Robert Blum, genannt Jimmy. 1970 als Sohn eines US-Amerikaners und einer Deutschen in Newark geboren und in Lüneburg aufgewachsen, studierte er Textil- und Betriebswirtschaftslehre, ehe er Modeläden in Hamburg eröffnete und im Teleshopping als „Markenbotschafter für Hunde- und Katzenprodukte“ auftrat.

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„Ich bin eine Rampensau“, gesteht Blum, „wo eine Bühne ist, springe ich rauf, das hilft in der Politik.“ Statt zu meckern, wollte er etwas umsetzen – und trat 2018 in die FDP ein, weil die Partei seine Werte vertritt, „wonach jeder so leben soll, wie er möchte und für sich selbst verantwortlich ist“. Allein dafür müsste die FDP „um die 50 Prozent der Wählerstimmen erreichen, statt nur fünf – wenn es gut läuft“, betont Blum, der offen als schwuler Mann mit seinem Mann in Hamburg lebt.

Lage auf den Straßen ist „eine Vollkatastrophe“

Nachdem er 2019 erstmals in die Bezirksversammlung einzog, möchte Blum nun weiter gestalten: „Ich sage den Menschen immer, dass sich nicht Christian Lindner um den Zebrastreifen in Hamburg-Mitte kümmert, sondern ich.“ In einem Bezirk, der die moderne Hafencity und die Hochhaussiedlungen von Billstedt ebenso vereint wie den Park Planten un Blomen, den Hafen, Airbus und die Insel Neuwerk. „Überall gibt es individuelle Probleme, besonders herausfordernd ist die Lage in den Bereichen Verkehr und Wohnen“, betont Blum.

Die Situation auf den Straßen sei „eine Vollkatastrophe“, weshalb der rot-grüne Senat „die vielen Baustellen, Sperrungen und Umleitungen endlich vernünftig koordinieren“ müsse. Blum: „Ich erwarte, dass sich alle zuständigen Ämter miteinander abstimmen, damit die Straßen nicht, kurz nachdem Fernwärmeleitungen gelegt wurden, wieder für den Glasfaseranschluss geöffnet werden müssen.“

Mit Blick auf den schwächelnden Wohnungsbau schlägt Blums Partei eine norddeutsche Bau-Hanse vor. „Bislang müssen sich die Firmen mit den Vorschriften des jeweiligen Bundeslandes auseinandersetzen“, sagt der Liberale und erklärt: „Durch einheitliche Regeln könnte das kostensparende serielle Bauen gefördert werden. Das würde Projekte günstiger machen, Mieten müssten nicht rasant steigen.“ Vielen Menschen sei bewusst, dass der Wohnungsbedarf wachse – „aber nicht vor der eigenen Haustür, höre ich von Bürgerinitiativen“. Doch „Partikularinteressen helfen der Gesellschaft nicht weiter“, beklagt Blum. „Wenn wir wollen, dass sich jeder eine Wohnung leisten kann, müssen wir bauen, bauen, bauen.“

Hamburgs flächenmäßig größter Bezirk ist Bergedorf mit 154 Quadratkilometern, der kleinste Eimsbüttel mit 50 Quadratkilometern. Der bevölkerungsreichste Bezirk ist Wandsbek mit 450.000 Einwohnern, die höchste Bevölkerungsdichte weist Nord mit 5500 Einwohnern pro Quadratkilometer auf. Altona gilt als Bezirk der Extreme, denn zwischen Blankenese und Osdorf variieren Mieten, Arztdichte und Arbeitslosenzahl enorm. Und Harburg verknüpft Stadtflair mit Obstplantagen im Alten Land und dem Containerterminal in Altenwerder.

Während die Hamburgische Bürgerschaft als Parlament des gesamten Stadtstaates agiert, sind die sieben Bezirksversammlungen Teil der Verwaltung und für die Einwohner des jeweiligen Bezirks zuständig. Im Gegensatz zur Bürgerschaft, die alle für Hamburg geltenden Gesetze verabschiedet, gehören die Bezirksversammlungen zur Exekutive. Sie setzen die von der Bürgerschaft – der Legislative – verabschiedeten Gesetze um.

In Wandsbek übernimmt diese Aufgabe zum Beispiel die promovierte Wirtschaftshistorikerin Natalie Hochheim. Inspiriert von dem Satz „Politik ist Geschichte in Aktion“ hat sich die Christdemokratin für die Kommunalpolitik entschieden, „weil diese täglich neu und spannend ist“, ein Tätigkeitsfeld, in dem sie „Verantwortung übernehmen, viele Dinge anschieben kann und die umgesetzten Lösungen zu sehen sind“. In ihren Begegnungen vor Ort nimmt

Hochheim derzeit wahr, dass sich die Bürger „mehr Sicherheit und Ordnung“ wünschen, „Schluss mit dem Verkehrschaos und eine starke Wirtschaft“ – „Kernthemen der CDU“, sagt Hochheim und fügt hinzu: „Der Alltag der Menschen findet in den Stadtteilen statt.“ So setzt sich die Bezirkskandidatin dafür ein, dass Parks erhalten bleiben und der Wohnungsbau gefördert wird, „ohne die letzten Freiflächen zuzubetonieren“. Dabei solle der Charakter der Quartiere erhalten bleiben, komplettiert von neuen Sportflächen und einem Verkehr, „der alle Teilnehmer in den Blick nimmt“.

Bürgernahe Verwaltung, effizient und digital

Und nicht zuletzt, sagt die Christdemokratin, muss die Verwaltung „bürgernah und serviceorientiert“, „effizient und digital“ funktionieren. Dabei sei Digitalisierung kein Selbstzweck, „sondern muss sich daran orientieren, das Leben und Arbeiten für die Menschen in den Bezirken zu erleichtern“, beschreibt Hochheim und sieht den Schlüssel dafür in einer transparenten Kommunikation. Sie setze „auf den gesunden Menschenverstand und eine vernünftige Politik für alle, Grundvoraussetzung hierfür ist eine starke Wirtschaft.“

Ein ähnliches Bild zeichnet Armita Kazemi von Eimsbüttel, wo sie kandidiert. Gewiss brauche ihr Bezirk „bezahlbare Wohnungen, gerechte Mobilität und lebendige Stadtteilzentren“. Doch beinhalte Eimsbüttel sowohl ein dicht besiedeltes Kerngebiet mit eng getakteten öffentlichen Verkehrsmitteln als auch Außengebiete, die signifikante Veränderungen erlebten. „Eine effektive Bezirkspolitik sollte daher individuell auf die Bedürfnisse der einzelnen Stadtteile eingehen, insbesondere in Bezug auf Mobilität, Wohnungsbau und Infrastruktur“, betont die Sozialdemokratin.

Außerdem strebt die 39-Jährige eine Verwaltung an, der „der Sprung in die digitale Realität gelingt“. Kazemi beschreibt: „Eine behördliche Leistung zu beantragen – Rente oder Kindergeld – fühlt sich oft immer noch an wie die Suche nach dem Passierschein A38, wie bei Asterix und Obelix.“ Bezirkspolitik müsse schneller und pragmatischer werden. „Es ist nicht notwendig, für jede Parkbank eine Grundsatzdebatte zu führen“, sagt die Juristin, die seit ihrem 18. Lebensjahr politisch aktiv ist.

Die Sozialdemokratin Armita Kazemi stellt sich in Hamburg-Eimsbüttel zur Wahl
Die Sozialdemokratin Armita Kazemi stellt sich in Hamburg-Eimsbüttel zur WahlQuelle: Julia Steinigeweg

Als Tochter iranischer Einwanderer sind ihr die Schwierigkeiten vertraut, die entstehen, wenn Gleichberechtigung und Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit fehlen. „Mein Ziel ist es, unsere demokratischen Werte zu schützen und zu stärken“, sagt sie – und erlebt „ein wachsendes Abwenden der Bevölkerung vom Staat“. „Diesen Vertrauensverlust muss die Politik angehen, sich um die konkreten Probleme der Menschen kümmern und nicht nur darüber reden, sondern diese lösen“, erklärt Kazemi, „ob es dabei um Zebrastreifen auf Schulwegen, die Verfügbarkeit öffentlicher Toiletten auf dem Marktplatz oder die Bekämpfung skrupelloser Vermieter geht.“

Im Bezirk Harburg möchte AfD-Kandidat Helge Ritscher „die Bürger in den Mittelpunkt“ seines Handelns stellen – und zwar so, „dass sich die Menschen wohl fühlen“. Sein Kritikpunkt: Durch das Abwandern renommierter Marken wegen ausbleibender Kunden sei die Fußgängerzone unattraktiv für Zahlungskräftige geworden und inzwischen „einseitig von Dönerbuden, Telefonläden und Friseuren“ geprägt. Die Lösung sei ein Branchenmix mit Parkraum – statt „aus Ideologie Parkplätze für einen herbeigeredeten Fahrradverkehr zu vernichten“.

Der AfD-Politiker Helge Ritscher tritt in Hamburg-Harburg an
Der AfD-Politiker Helge Ritscher tritt in Hamburg-Harburg anQuelle: AfD Hamburg Harburg

Höchste Priorität hat für den 52-jährigen Kaufmann jedoch die Innere Sicherheit: „Eine klare Absage an Gewalt ist unabdingbar, Harburg muss sicherer werden.“ Ritscher lebt eigenen Angaben zufolge seit fast 50 Jahren in seinem Bezirk. „Ich weiß, wie es früher war und ich sehe, wie es derzeit ist“, sagt er, das sei Grund genug, „aktiv an der weiteren Entwicklung mitzuwirken.“ Dazu gehöre „ein Schulsystem aus selbständig denkenden Menschen“, in dem „jeder seine Möglichkeiten nutzen und durch Fleiß seine beruflichen Wünsche und Träume erreichen kann“.

Im Südosten Hamburgs, in Bergedorf, tritt Christin Feiler für die Linke an. „Ich mache Kommunalpolitik, weil man mit kleinen Veränderungen das Leben vieler verbessern kann“, sagt die 26-Jährige. Ihr Verständnis von einer „solidarischen Politik“ bedeutet neben zuverlässigem Nahverkehr und barrierefreien Fuß- und Radwegen vor allem bezahlbarer Wohnraum. „Für viele Menschen stellt sich die Frage, wie sie, nachdem sie die Miete gezahlt haben, Rechnungen, Lebensmittel oder eine unvorhergesehene Anschaffung bezahlen sollen.“ Diesen Zustand möchte Feiler ändern, indem sie sich für mehr „städtischen, genossenschaftlichen und sozialen Wohnraum“ stark macht.

Christin Feiler kandidiert für die Linkspartei in Hamburg-Bergedorf
Christin Feiler kandidiert für die Linkspartei in Hamburg-BergedorfQuelle: Die Linke

Wesentlich ist für die ausgebildete Erzieherin ferner eine bessere Finanzierung sozialer Einrichtungen wie Jugend- und Frauenhäuser sowie Tagesaufenthaltsstellen für Obdachlose. „Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, sagt die Linkspolitikerin und fordert mehr Augenmerk dafür, das „Investitionen in soziale Einrichtungen Investitionen in die Zukunft sind“. Ebenfalls benötige Bergedorf noch mehr motivierte Menschen, die sich einbringen – im Sportverein, in Jugend- und Bürgerhäusern, in Integrationsprojekten oder der Bezirkspolitik. Feiler betont: „Bergedorf braucht weder Ausgrenzung noch Intoleranz oder Diskriminierung. Stattdessen müssen wir weiter solidarisch zusammenstehen.“

Dass sich die Stimmung verändert, merkt Jimmy Blum nicht minder im Bezirk Mitte. „Ich empfinde die Debattenkultur als leicht aggressiv“, sagt der FDP-Kandidat und begründet dies mit Herausforderungen wie Angriffskrieg, Energiekrise und Migration. Unsere Demokratie müsse unterschiedliche Meinungen aushalten, auch an den Rändern – links wie rechts. „Aber die Entwicklungen an den Rändern müssen die demokratischen Parteien wachrütteln, wir müssen eine bessere Politik machen, ganz einfach“, erklärt Blum. Einander zuhören, wäre ein guter Anfang.

Das adressiert der Kommunalpolitiker auch an die Ampel im Bund, die nach außen ruhiger um Kompromisse ringen sollte. Gleichwohl sei es richtig, dass die Liberalen Teil des Bündnisses mit SPD und Grünen sind – denn: „Die FDP rettet gerade das Land“, sagt der Kaufmann und wertet das Selbstbestimmungs- und das Cannabisgesetz als „Erfolge“. Zieht Blum am 9. Juni erneut in die Bezirksversammlung ein, schließt er eine Kandidatur für die Bürgerschaftswahl 2025 nicht aus. „Und sollte der FDP in Hamburg mal wieder der Sprung in die Regierung gelingen, würde mich der Posten als Umwelt- oder Verkehrssenator reizen.“ Dann könne er zeigen, ob er besser sei als die anderen.