Die Bilder des Angriffs auf zwei Kippa-Träger in Berlin in der vergangenen Woche dürften einem Mann sehr vertraut vorkommen: Daniel Alter. Der Rabbiner war 2012 ebenfalls in Berlin von vier arabischen Jugendlichen attackiert worden. Zuvor hatten sie den 53-Jährigen gefragt, ob er Jude sei. Alter bejahte. Bei dem Angriff brachen ihm die Gewalttäter das Jochbein.
Der Vorfall hatte eine Debatte über muslimischen Antisemitismus und die Sicherheit von jüdischen Menschen in Deutschland ausgelöst. Alter sagte damals, in Berlin gebe es No-go-Areas für öffentlich erkennbare Juden. Wie die Gewalttat gegen Alter 2012 löste auch der jüngste Vorfall Solidaritätsaktionen aus, bei denen dazu aufgerufen wurde, als Zeichen der Unterstützung öffentlich sichtbar eine Kippa zu tragen.
Am Dienstag aber meldete sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, zu Wort: Er rate Einzelpersonen davon ab, „sich offen mit einer Kippa im großstädtischen Milieu in Deutschland zu zeigen“, sagte er Radio eins. Zwar wäre es richtig, sich angesichts der Anfeindungen „trotzig“ zu zeigen, sagte Schuster. Vernünftigerweise müsse man aber raten, „stattdessen lieber ein Basecap oder etwas anderes als Kopfbedeckung zu tragen“.
„Josef Schuster hat mit seiner Warnung insofern recht, als dass niemand ein unnötiges Risiko eingehen sollte“, sagt Daniel Alter im Gespräch mit WELT. „Alleine in Neukölln sollte man das besser nicht tun.“ Wenn eine Gruppe von Menschen aber tagsüber mit Kippa an ungefährlichen Orten wie dem Berliner Einkaufsboulevard Kurfürstendamm unterwegs sei, könne man davon ausgehen, dass nichts passiere, glaubt Alter. Generell müsse man mit dem Tragen der Kippa vorsichtig sein. Als er selbst attackiert wurde, trug er eine Mütze über der Kippa – doch die Angreifer erkannten ihn trotzdem als Juden. Es könne sein, dass die Mütze etwas verrutscht war, sagt Alter heute.
Am Mittwoch treffen sich in Berlin auf Einladung der Jüdischen Gemeinde Menschen zu der Solidaritätsdemonstration „Berlin trägt Kippa“. Gemeinsam wolle man ein Zeichen gegen Antisemitismus und Intoleranz setzen und ein breites gesellschaftliches Bündnis mobilisieren, schreiben die Veranstalter. Als Redner werden Zentralratschef Schuster, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, Gideon Joffe, sowie Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) auftreten. Schon einige Tage zuvor riefen Aktivisten zu einem Kippa-Flashmob durch die Hauptstadt auf. Andere starteten das Projekt „Soli-Kippa“, bei dem sich Interessierte gegen Porto-Gebühr die religiöse Kopfbedeckung bestellen können, um sie öffentlich sichtbar zu tragen.
Wie sich die Situation in Berlin durch den Zuzug von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum verändert hat, kann Daniel Alter nicht genau sagen: Er lebt seit mehr als einem Jahr nicht mehr in der Hauptstadt. Er geht aber davon aus, dass die Situation für Juden schlimmer geworden sei. „Viele Flüchtlinge kommen aus Ländern, wo der Hass auf Juden und Israel staatstragenden Charakter hat. Da ist es klar, dass mit ihnen ein großes Potenzial an Judenhass nach Deutschland kommt.“
Doch er kennt auch Gegenbeispiele. Etwa aus Kiel. Die dortige liberale jüdische Gemeinde habe ein Projekt mit Flüchtlingen durchgeführt. „Als einige von ihnen (den Migranten, d. Red.) gemerkt haben, wo sie sind, sind sie aufgestanden und gegangen.“ Andere aber seien geblieben. „Hinterher haben sie gesagt, sie hätten erkannt, dass sie von ihren Regierungen belogen wurden, was Juden angeht. Das war ein positives Erlebnis.“
Dass die Bundesregierung mit Felix Klein nun einen Antisemitismusbeauftragten berufen hat, bewertet Alter positiv. Er selbst hatte von 2012 bis Ende 2015 diese Funktion in der Jüdischen Gemeinde Berlin. Mit Blick auf Kleins künftige Arbeit findet er vor allem die Arbeit an Schulen wichtig, etwa die Ausbildung von Lehrern: Diese müssten befähigt werden, auf das Thema Antisemitismus angemessen zu reagieren. Problematisch sei auch das Bild Israels in Schulbüchern. Der Nahost-Konflikt und die Geschichte des jüdischen Staats würden häufig verzerrt dargestellt. „Auch die Schoa wird oft so unterrichtet, dass das Thema an Schülern mit Migrationshintergrund abprallt“, sagt Alter. „Hier sind neue Konzepte nötig.“
Eine weitere wichtige Aufgabe für den Antisemitismusbeauftragten sieht der Rabbiner in der Koordinierung von Organisationen und Initiativen, die sich gegen Judenhass engagieren. Da müsse man genau hinschauen, wer gute Arbeit leiste – und wer kontraproduktiv sei. Zu ersterer Gruppe zählt er die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias). Diese erfasst antisemitische Vorfälle auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze und ist damit umfassender als die Polizeiliche Kriminalstatistik.
Letztere sei auch problematisch, weil Straftaten oft falsch erfasst würden, kritisiert Alter. Eine judenfeindliche Schmiererei am Briefkasten etwa werde oft unter „Sachbeschädigung“ abgelegt. „Außerdem sehen viele Betroffene keinen Sinn darin, Anzeige zu erstatten, weil diese – oft ohne bösen Willen der Beamten – in der Schublade verschwinden.“ Er wünscht sich, dass Projekte wie Rias bundesweit etabliert werden.
Der junge palästinensische Syrer, der die beiden Kippa-Träger in Berlin angegriffen hatte, sitzt in Untersuchungshaft. Inzwischen wird darüber diskutiert, ob man antisemitische Flüchtlinge ausweisen solle. Auch Daniel Alter findet: In manchen Fällen müsse man derartige Schritte erwägen. Auch ihn beschäftigt die Frage: „Wie gehen wir mit denen um, die den Schutz einer demokratischen Gesellschaft suchen, sich aber nicht entsprechend verhalten?“ Der Rabbiner warnt: Man müsse zwar entschlossen und energisch die Demokratie verteidigen – dürfe sich aber auch nicht zu Hysterie und Populismus hinreißen lassen.