Auf die Sekunde genau um 14.30 Uhr hat Khymani James seinen Auftritt. Der Politikstudent steht auf einem Vorplatz der Butler Library, der großen Bibliothek an der Columbia University in New York. Sein Publikum hat sich in einem Halbkreis um ihn herum versammelt. Es will seine antiisraelischen Botschaften hören. „Heute ist Tag 201 des Genozids an Palästinensern in Gaza“, liest James vor, ein Schwarzer im bunten Strickpullover und mit Kufiya, dem „Palästinensertuch“ auf dem Kopf.
Der Student rechnet auf den 7. Oktober zurück – jenen Tag, an dem die palästinensische Terrororganisation Hamas mehr als Tausend Juden brutal ermordete, verstümmelte oder entführte. Doch deswegen ist James nicht hier.
Hunderte Leichen von Palästinensern, die vom israelischen Militär ermordet worden seien, würden weiter in Massengräbern gefunden. „Wir wissen, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen“, ruft er, ehe er mit freundlicher Miene geduldig um Fragen aus dem Publikum bittet.
James ist das lächelnde Gesicht eines hässlichen Protests. Nicht nur an der Columbia University, sondern an zahlreichen Hochschulen im Land eskalieren derzeit antiisraelische Kundgebungen. Teilnehmer brüllen antisemitische Parolen, rufen offen zur Gewalt gegen Juden auf. In den vergangenen Tagen kam es allein in New York zu Dutzenden Festnahmen.
Während manche Universitätsführungen die Protestler im Zeichen der Meinungsfreiheit gewähren lassen, beschäftigt das Problem längst auch Washington. Denn für manchen Politiker wird der wachsende Antisemitismus im Land zum Wahlkampf-Dilemma.
An der Columbia University besetzen die antiisraelischen Protestler schon seit Tagen in aufgebauten Zelten den Rasen auf dem Hauptcampus, umgeben von einer hohen Hecke. Hunderte Palästina-Flaggen an weißen Stäbchen haben sie ins Grün gesteckt, ebenso Pappschilder, die zur „Befreiung“ von Gaza oder zum Stopp eines angeblichen Genozids an den Palästinensern aufrufen. In ihrem Zeltlager haben sie Campingtische und -stühle aufgestellt, trinken Wasser aus Kanistern und hören Musik aus tragbaren Boxen.
Unter ihnen ist ein deutscher Soziologiestudent, der sich selbst Marlon nennt. „Uns geht es hier um das Leid der Menschen in Gaza“, sagt er. Studenten wie er würden horrende Summen für ihr Studium bezahlen – Geld, das in Kooperationen mit Firmen wie den Rüstungshersteller Lockheed Martin fließe.
„Diese Firmen profitieren vom Leid der Menschen in Gaza“, behauptet Marlon. Dass sich die Columbia University auch mit den Großspenden jüdischer Philanthropen finanziert, scheint dem jungen Deutschen egal zu sein. Die Demonstranten bleiben bei ihrer radikalen Forderung: Ihre Universität soll sich aus allem herausziehen, das irgendwie mit Israel zu tun hat.
Seit Beginn der Proteste hat sich die Columbia University abgeschottet. Dutzende Polizisten stehen vor den prunkvoll verzierten Metallzäunen um den Hauptcampus herum und beäugen vorbeischlendernde Passanten. Den sonst frei zugänglichen Platz dürfen nur noch immatrikulierte Studenten und Personen mit Sondergenehmigung der Universität betreten. Doch die zu bekommen, ist nicht leicht. Der Grund ist offensichtlich: Bilder wie die vom vergangenen Donnerstag will die Universität vermeiden.
Der Donnerstag markierte den Startpunkt der Eskalation. Mehr als 100 antiisraelische Protestler wurden von der Polizei abgeführt und festgenommen, kurz nachdem sie das Zeltlager errichtet hatten. „Aus großer Sorge um die Sicherheit des Columbia-Campus“ habe sie die New Yorker Polizei mit der Räumung beauftragt, schrieb Universitätspräsidentin Minouche Shafik in einer Mitteilung. Die Festgenommenen seien außerdem von der Uni suspendiert worden.
Nicht nur auf dem Gelände, sondern auch in den Straßen um die Universität herum kam es daraufhin zu Szenen des Hasses gegen Juden. In Videos ist zu hören, wie Teilnehmer rufen: „Burn Tel Aviv to the ground“.
Auf Deutsch übersetzt also: „Brennt Tel Aviv bis auf den Grund nieder“. In einer anderen Aufnahme werden die jüdischen Studenten aufgefordert, zurück nach Polen zu gehen. Ein jüdischer Student meldete außerdem, dass Demonstranten ihm eine israelische Flagge entrissen und verbrannt hätten. Während der Unruhen auf dem Campus sei ihm mit Steinen ins Gesicht geschlagen wurden.
Das Zeltlager hat die Unruhen überstanden. Noch immer stehen knapp 60 Zelte auf dem Rasen des Universitätsgeländes. An diesem Mittwoch tummeln sich jedoch deutlich weniger Studenten als sonst auf dem prestigeträchtigen Platz. Die Lehre auf längst von den Hörsälen in die engen New Yorker Studentenwohnungen verlagert.
Bis zum Ende des Semesters am 29. April herrscht Digitalunterricht. „Sicherheit hat für uns höchste Priorität“, heißt es in einer Mitteilung der Universität. Durch den virtuellen Unterricht sei man bestrebt, das Lernen der Studenten und alle erforderlichen akademischen Abläufe zu unterstützen.
Zu einem weiteren Räumungsversuch kann sich die Universitätsleitung bisher nicht durchringen. Stattdessen versucht man es mit Ultimaten. Werde man sich nicht über die Auflösung des Protestlagers einig, müsse man „alternative Optionen“ für die Räumung in Betracht ziehen, schrieb sie in einem Brief.
Eine erste Deadline zu Dienstagmitternacht ließen die Demonstranten schon verstreichen. Jetzt gewährte ihnen die Universitätsleitung noch mal einen Aufschub um 48 Stunden – man mache schließlich „wichtige Fortschritte“ in den Verhandlungen mit den Studentenvertretern, hieß es.
Und so bestimmen die antiisraelischen Demonstranten auf dem Campus weiterhin über Recht und Ordnung. Wer dem Zeltlager zu nahe kommt, wird aufgefordert, sich auf vorgesehene Plätze zurückzubegeben. Maskierte Menschen in orangefarbenen Warnwesten treffen die Anweisungen. Sie seien Fakultätsmitarbeiter, die mit den Protestlern sympathisieren, sagen sie. Das Reden überlassen sie jedoch lieber ihren Sprechern, eben Studenten wie Khymani James.
Nur kurze Zeit nach James‘ Auftritt ergriff ein anderer Redner auf der gegenüberliegenden Seite des Unigeländes das Wort. Es war Mike Johnson, der Sprecher des US-Repräsentantenhauses und damit drittmächtigster Mann der Vereinigten Staaten.
„Ich bin heute hier, schließe mich meinen Kollegen an und fordere Universitätspräsidentin Shafik auf, zurückzutreten, wenn sie nicht sofort Ordnung in dieses Chaos bringen kann“, rief der Republikaner unter lauten Buhrufen. Die Situation sei gefährlich. „Das ist keine freie Meinungsäußerung. Sie bedrohen und schüchtern ein“, sagte Johnson.
„Angst habe ich keine“, sagt die jüdische Studentin
Während die Republikaner ein hartes Durchgreifen gegen die Protestler fordern, bleibt US-Präsident Joe Biden zögerlich. „Ich verurteile die antisemitischen Proteste“, sagte er am Montag bei einer Veranstaltung. Und doch kommt der 81-Jährige nicht ohne eine Einschränkung aus. „Ich verurteile auch diejenigen, die nicht verstehen, was mit den Palästinensern los ist“, fügte er an.
Wenn es im November um seine Wiederwahl geht, braucht Biden die Stimmen der jungen und linksliberalen Großstädter – und damit jene, die sich den propalästinensischen Demonstrationen verbunden fühlen.
Sein Umgang mit den antiisraelischen Protesten wird aber auch von arabisch-amerikanischen Wählern in wichtigen Swing States beobachtet, etwa im Bundesstaat Michigan. Auch unter ihnen sympathisieren viele mit antiisraelischen und antisemitischen Positionen.
Republikaner Johnson wiederum sei an die Columbia University gekommen, um vor allem zu jüdischen Studenten zu sprechen, wie er sagte. Doch nur wenige sind gekommen, darunter Ariana Pinsker-Lehrer. Die junge Studentin sitzt wenige Schritte von den Stufen des Hauptgebäudes entfernt auf dem Boden mit zwei Freunden.
An der Steinwand hinter ihr haben sie Dutzende Bilder verschleppter israelischer Geiseln aufgeklebt. „Wenn ich die Bilder sehe, bricht es mir das Herz“, sagt sie. Aber sie wolle alle daran erinnern, worum es eigentlich gehe: den grauenvollen Terrorangriff der Hamas..
Während Pinsker-Lehrers Freundin immer wieder mit den Tränen kämpft, bleibt sie tapfer. „Vielleicht bin ich naiv, aber Angst habe ich keine“, sagt sie. Möglicherweise sei es auch schlicht Glück gewesen, dass sie bislang nicht attackiert worden ist.
Viele ihrer jüdischen Freunde seien jedoch beschimpft und bedroht worden. Und dann wird auch Pinsker-Lehrer emotional: „Es gibt tonnenweise Hassbotschaften, ein enormes Maß an Entmenschlichung von uns Juden“, sagt sie mit brüchiger Stimme.
Am Ende seines Auftritts will auch Khymani James noch einmal daran erinnern, warum er hier sei. Es gehe ihm um die Befreiung der Palästinenser, wie er sagt. Und solange sich seine Universität zum „Komplizen eines Genozids“ mache, wollen er und seine Gefolgsleute bleiben. „Wir haben keinerlei Plan, den Campus zu verlassen.“