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Ausland Jüdisches Leben in der Ukraine

„Wir haben den Zaren und die Nazis überstanden. Wir werden auch den Krieg überstehen“

Korrespondent für Kriegs- und Krisengebiete
Rabbi Yosef Wolff in Cherson Rabbi Yosef Wolff in Cherson
Rabbi Yosef Wolff in Cherson
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA
Vor dem Krieg lebten in Cherson tausende Juden – doch nach Besatzung, ständigem Beschuss und einer Naturkatastrophe sind nur wenige geblieben. Unter ihnen die Alten und Gebrechlichen der Gemeinde, die als Kinder den Holocaust erlebt hatten. WELT hat den Rabbi der Gemeinde begleitet.
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„Wenn Sie wissen, wie jüdische Mütter sind, dann können Sie verstehen, warum ich die hier immer tragen muss“, sagt Yosef Wolff schmunzelnd und deutet auf die Schutzweste und den Helm. Sie liegen im Eingangsflur der Villa, die der Rabbi von Cherson bewohnt. Draußen auf dem gepflasterten Vorhof steht sein weißer Toyota Land Cruiser.

Wolff bittet an den langen Tisch in seiner ungewöhnlich geräumigen Küche. Der Platz ist auch vonnöten, denn der Rabbi hat sieben Kinder. „Die meisten sind jedoch mittlerweile erwachsen und leben woanders“, erzählt Wolff. „Nur die kleineren sind noch bei uns, aber nicht hier, sondern mit meiner Frau vorübergehend in Odessa.“

Cherson liegt am Dnipro-Fluss, nahe dem Schwarzen Meer. Eine fast schon idyllische Hafenstadt, mit 280.000 Einwohnern, viel Grün und überwiegend Einfamilienhäuser. Neun Monate war der Ort von Russland besetzt. Erst im November konnte die Ukraine ihn zurückerobern. Trotzdem ist es immer noch nicht sicher.

Die russischen Truppen stehen auf der anderen Seite des Flusses und ihr Artilleriebeschuss bleibt konstant. „Man weiß nie, manchmal schießen sie die ganze Nacht durch, manchmal nur drei-, viermal am Tag“, sagt Wolff und fährt sich mit der Hand über den langen, grau melierten Bart.

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Am frühen Morgen des 6. Juni war dann zum Krieg noch eine Naturkatastrophe hinzugekommen. Eine Explosion zerstörte den Damm des Kachowka-Stausees bei Cherson, der etwa die Größe Luxemburgs hat. Der Damm stand unter Kontrolle russischer Truppen, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gesprengt haben. Die ausströmenden Wassermassen überschwemmten die Ortschaften entlang des Flusses, einschließlich großer Teile von Cherson.

Tausende von Häusern standen unter Wasser. „Wir hatten Glück, unser Wohnviertel und auch die Synagoge liegen etwas höher und waren nicht betroffen“, erzählt der Rabbi. Die Bewohner der niedriger gelegenen Gebiete dagegen, darunter auch viele jüdische Familien, mussten ihre Häuser verlassen. „Damals entschieden sich wieder einige unserer Gemeindemitglieder, die Stadt zu verlassen“, sagt Wolff betrübt.

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Seit Kriegsbeginn hat der Rabbi bereits 80 Prozent seiner Gemeinde verloren. Nur noch etwa 700 Mitglieder sind geblieben. Vom reichhaltigen jüdischen Leben mit Schulen, Kindergärten, großen religiösen Festen und kulturellen Veranstaltungen, ist kaum etwas geblieben. Die Juden von Cherson sind in europäische Länder, in die USA, nach Kanada und nach Israel geflohen.

Der Rabbi weiß, je länger der Krieg dauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie zurückkommen. Der Krieg gefährdet die Jahrhunderte alte jüdische Gemeinde und auch das Lebenswerk des Rabbis. Vor über 30 Jahren hatte der in Israel geborene Wolff die Entscheidung für Cherson getroffen.

Damals war er erst 21 Jahre alt. Aber sein spiritueller Mentor, der bekannte Rabbi Menachem Schneerson, hatte ihm den Posten in der Ukraine empfohlen. „Es war am Ende eine Berufung“, sagt Wolff und nippt an seinem Kaffee. „Wir können nur hoffen und unsere Gemeinde so weit wie möglich unterstützen.“

„Das Wasser stand bis zur Giebelspitze“

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In der Nacht donnern die russischen Geschütze. Die Ukraine spricht am nächsten Tag von insgesamt 51 Angriffen. Aber dies kann nur eine Untertreibung sein, denn die russische Artillerie feuerte im Minutentakt bis in den frühen Morgen hinein. Das Angriffsziel war nicht das Stadtgebiet von Cherson, sondern ukrainische Stellungen entlang des Dnipros.

Pünktlich um 8.30 Uhr sitzt Rabbi Wolff mit Helm und Schutzweste lachend in seinem weißen SUV. Die Weste hat er aus Israel mitgebracht, Größe XXL. Trotzdem deckt sie seinen Oberkörper mit dem voluminösen Bauch kaum ab.

Erste Station ist der Teil des Stadtzentrums, der nach dem Dammbruch unter Wasser stand. Die Straßen sind vom Schutt und Gerümpel gereinigt, aber eingetrockneter Morast bedeckt sie weiterhin. Auch die Wohnhäuser sind längst freigeräumt. Meist sind es Steinbauten aus dem 19. Jahrhundert.

Die Spuren der Flut sind im Stadtzentrum noch deutlich zu sehen
Die Spuren der Flut sind im Stadtzentrum noch deutlich zu sehen
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

„Mein Haus ist im Familienbesitz seit 1887“, sagt Andrej Terram und führt durch das noch muffig riechende Haus. „Das Wasser stand bis zur Giebelspitze und hat alles vernichtet, was wir hatten.“ Der 51-Jährige fasst an eine der Wände. „Sehen Sie, alles noch feucht.“ Er wolle auf alle Fälle das Haus seiner Familie wieder herrichten. Doch bisher fehlt das Geld dazu. Umgerechnet rund 18.000 Euro soll die Sanierung kosten. Für deutsche Verhältnisse mag dies relativ wenig klingen. Aber für Ukrainer, mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 300 bis 500 Euro, liegen die Dinge anders.

Nächster Stopp ist die Synagoge Chabad, die aus dem Jahr 1895 stammt. Der Rabbi will Lebensmittelpakete einladen und sie zu älteren Gemeindemitgliedern bringen. „Sehen Sie“, ruft er, kaum, dass er aus dem Wagen gestiegen ist. „Als ich in den 1990er-Jahren die Synagoge renovieren ließ, haben wir alles neu gemacht und nur die Fassade als historisches Zeugnis stehen lassen“. Er fügt hinzu: „Wir haben nämlich den Zaren, die Revolution, den Kommunismus, die Nazis und die Zeit der Perestroika überstanden und werden nun auch den Krieg überstehen.“

Rabbi Wolff liefert Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente an Gemeindemitglieder
Rabbi Wolff liefert Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente an Gemeindemitglieder
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA


Der Rabbi gibt eine Tour durch die Synagoge. Er zeigt sein Büro, den Gebetsraum und die Bibliothek, die zu einer Apotheke umfunktioniert ist. Die Synagoge war ein Notfall- und Hilfszentrum während der Überschwemmung, aber auch in der Besatzungszeit. „Es gab so gut wie nichts zu kaufen, der Strom und das Wasser fielen ständig aus“, erzählt Wolff.

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„Wir haben viele Tausende von Lebensmittelpaketen und Medikamente verteilt.“ Der Rabbi ist während der russischen Besatzungszeit geblieben, um für seine Gemeinde da zu sein. Er wollte Hilfe leisten und das jüdische Leben mit Gottesdiensten, Purimfesten, und Pessach-Feiern aufrechterhalten.

Kerngeschäft: Der Rabbi beim Gottesdienst in seiner Synagoge
Kerngeschäft: Der Rabbi beim Gottesdienst in seiner Synagoge
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

Nur kurz vor der Befreiung im November reiste Wolff mit seiner Familie einmal nach Deutschland und kehrte erst im März wieder zurück. „Aus familiären Gründen“, sagt er heute. Dabei hatte es Unstimmigkeiten mit den ukrainischen Behörden gegeben, die ihn der Kollaboration beschuldigten. Bei seiner Rückkehr nahm man ihn sogar kurz in Gewahrsam. „Keine Politik“, sagt er lachend, „sie haben einig Fragen gestellt, aber darüber sprechen wir nicht“.

Danach macht sich der Rabbi mit Valentina, der Leiterin der jüdischen Sozialarbeit, auf eine seiner üblichen Touren. Er bringt die eingesammelten Lebensmittel und Medikamente zu jenen Gemeindemitgliedern, die ihre Häuser nicht mehr verlassen können.

Einige von ihnen sind über 90 Jahre alt und bettlägrig. Sie müssen Tag und Nacht versorgt werden. „Fünf oder sechs Frauen kümmern sich um eine Person im Schichtdienst“, erklärt der Rabbi. Es sind insgesamt acht Fälle, bei denen eine aufwendige Intensivpflege rund um die Uhr organisiert sein muss.

Damals Nazis, heute Russen

Etwas einfacher gestaltet sich die Versorgung von Ana Rosinskaja, einer 70-Jährigen mit akuten Herzproblemen. Sie hat eine Haushaltshilfe, die fünfmal die Woche kommt. „Während der Besatzung bin ich nie aus dem Haus gegangen und so auch keinem Russen begegnet“, sagt Rosinskaja schmunzelnd.

Anna Rosinskaja
Ana Rosinskaja
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

„Und die Überschwemmungen haben zum Glück unser Viertel nicht erreicht.“ Ganz anders war dies bei Julia und ihrem Mann Igor, der im Rollstuhl sitzt. Ihr Haus liegt direkt am Flussufer. „Unser Nachbar hat uns zum Glück angerufen und gewarnt, sonst wäre es schlimm ausgegangen“, sagt die 53-jährige Frau.

Bevor der Rabbi zum Mittagsgebet in die Synagoge zurückmuss, will er unbedingt noch Rosa Michailowka vorstellen. Die 86-Jährige hat als kleines Mädchen den Holocaust überlebt. 1941 waren mindestens 7000 Juden in der Region Cherson erschossen worden.

Holocaust-Überlebende Rosa Michailovka
Holocaust-Überlebende Rosa Michailowka
Quelle: RICARDO GARCIA VILANOVA

„Es waren Rumänen, die uns im Auftrag der Nazis ständig mit dem Tod bedrohten“, erinnert sich Michailowka, die ihr Leben lang als Notärztin arbeitete. Natürlich erinnere sie der Krieg von heute an die Zeit von damals. Aber sie habe längst aufgegeben, einen tieferen Sinn darin zu suchen. „Denn es gibt immer wieder Idioten, die mit anderen Idioten in Konflikt kommen“, erklärt sie mit viel Sarkasmus. „Dies scheint sich einfach nicht zu ändern.“

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