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Ausland Je suis Yoav

„Diese Kugeln haben alle Tunesier getroffen“

Am 13. Januar wurden die vier Opfer, die im jüdischen Supermarkt in Paris starben, in Jerusalem beerdigt: Batou Hattab mit seiner Frau während ihres letzten Geleits für ihren Sohn Yoav Am 13. Januar wurden die vier Opfer, die im jüdischen Supermarkt in Paris starben, in Jerusalem beerdigt: Batou Hattab mit seiner Frau während ihres letzten Geleits für ihren Sohn Yoav
Am 13. Januar wurden die vier Opfer, die im jüdischen Supermarkt in Paris starben, in Jerusalem beerdigt: Batou Hattab mit seiner Frau während ihres letzten Geleits für ihren Sohn ...Yoav
Quelle: picture alliance / AA
Ein Islamist hat vor vier Monaten den Tunesier Yoav Hattab in einem jüdischen Supermarkt in Paris erschossen. Sein Vater begreift das bis heute nicht. Nach Israel auswandern will er dennoch nicht.

Die Szenen des Tages, an dem sein Sohn starb, haben sich in Batou Hattabs Inneres gebrannt. „Bis heute kann ich nicht glauben, dass Yoav tot ist“, sagt er, blickt ins Leere und deutet mit dem Zeigefinger auf einen Punkt in der Luft, als könnte er so die Bilder des 9. Januars auf eine imaginäre Leinwand projizieren. Des Tages, an dem der Fernseher die Nachricht über die Geiselnahme in dem jüdischen Supermarkt aus Paris in sein Wohnzimmer trug.

Dieses Video zeigt die Erstürmung des Supermarkts

Diese Videobilder zeigen, wie sich Dutzende Einsatzkräfte dem jüdischen Supermarkt in Paris nähern und das Gebäude erstürmen. Die Polizei beendete die Geiselnahme durch einen mutmaßlichen Islamisten.

Quelle: Die Welt

Batou Hattab war in seinem Haus in La Goulette, als der Islamist Amédy Coulibaly mit mehreren Schüssen seinen Sohn tötete. In der Küstenstadt La Goulette, die wie ein Vorort nördlich der tunesischen Hauptstadt Tunis liegt, leben Juden, Muslime und Christen friedlich zusammen. Yoav Hattab ist hier aufgewachsen. Dass solch ein Angriff in Frankreich passiert, macht den Vater Hattab fassungslos.

„Je suis Yoav“, ist der Satz, mit dem sich Tunesier mit der Familie Hattab und Frankreich solidarisierten. Angelehnt an den Slogan „Je suis Charlie“, der nach dem Anschlag auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ international für demokratische Werte stand. Und als Geste für die Opfer galt. Als Frankreichs Trauma, sogar als Europas 11. September beschrieben Kommentatoren den Angriff in Paris. 17 Menschen verloren dabei ihr Leben, darunter die vier Opfer, die zwei Tage nach dem Anschlag auf die Redaktionsräume in dem Supermarkt Hyper Cocher starben.

Inzwischen macht „Charlie Hebdo“ Schlagzeilen, weil sich die Redaktionsmitglieder über die Besitzverhältnisse streiten. Seit dem Attentat hat die Zeitschrift 30 Millionen Euro eingenommen. Von dem tiefen, prognostizierten Schmerz ist öffentlich kaum noch etwas zu spüren.

Hattab flog nach Paris, um seinen Sohn zurückzuholen

Batou Hattabs Schmerz hat sich um seine Stimmbänder gelegt. „Yoav war ein zuvorkommender, netter Mann“, sagt er heiser, den Schlüsselbund in der Hand, als könnte er ihn jederzeit als Grund anführen, um schnell weg zu müssen.

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Der Großrabbiner Hattab, ein kleiner Mann mit gekräuseltem Vollbart, ist Leiter der jüdischen Schule im Zentrum Tunis’. Für das Gespräch über seinen Sohn steigt er zügig die Treppen in den zweiten Stock hinauf, vorbei an kleinen Klassenräumen, in denen Jugendliche an grünen Schulbänken lernen. Knapp 40 jüdische Schüler werden hier bis zum Abitur geführt. Auch Hattabs Kinder.

Yoav Hattab, 21, studierte in Paris. Er ist eines von vier Opfern, die im Januar dieses Jahres in einem jüdischen Supermarkt in Paris ihr Leben verloren
Yoav Hattab, 21, studierte in Paris. Er ist eines von vier Opfern, die im Januar dieses Jahres in einem jüdischen Supermarkt in Paris ihr Leben verloren
Quelle: AFP

Batou Hattab nimmt Platz in einem Raum, in dem Unterrichtsmaterialien lagern, abgegriffene Romane von Hemingway, Bücher über die jüdische Lehre. Hier, in diesem kleinen Raum spricht er über seinen Sohn, nicht in seinem Büro im Erdgeschoss. Hier ist er Vater, nicht Schulleiter.

Yoav war der Zweitgeborene von neun Kindern. Der 21-Jährige ging wie viele junge Tunesier zum Studium ins Ausland. In Paris studierte er Marketing und Wirtschaft. An dem Freitag, an dem Yoav starb, war er bei Freunden zum Sabbat eingeladen, erzählt Hattab. Weil er eine Flasche Wein mitbringen wollte, sei er noch in den koscheren Supermarkt gegangen. Dort habe er versucht, dem Attentäter eine Waffe zu entreißen. Dabei wurde er erschossen.

Nach Yoavs Tod flog Hattab nach Paris, um seinen Sohn zurückzuholen. „Er hatte gehofft ihn bald zum Altar führen zu können“, sagte er damals einem französischen Fernsehsender. Nun musste er seinen Sarg überführen. „Fünfzehn oder sechzehn Kugeln haben seinen Körper völlig zerstört“, sagt der Vater, als er sich an das Bild seines Sohnes im Leichenschauhaus erinnert. Seine Stimme wackelt. „In diesem Moment habe ich das Leben gehasst.“

Hattab ist dankbar für persönliche Bekundungen

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Seit dem Rückflug aus Paris meidet Hattab den Flughafen in Tunis. Normalerweise war es Yoav, der den Vater dort abholte. Nun fehlt sein lachendes Gesicht zwischen all den Wartenden. Das erträgt der Großrabbiner nicht. Wenn er fliegen muss, bucht er Maschinen, die auf dem Flughafen in Hammamet landen, eine Stadt südlich von Tunis – etwa eine Stunde mit dem Auto entfernt.

In der tunesischen Hauptstadt Tunis haben im Januar viele Menschen dem getöteten Yoav Hattab gedacht
In der tunesischen Hauptstadt Tunis haben im Januar viele Menschen des getöteten Yoav Hattab gedacht
Quelle: picture alliance / dpa

Die Solidarität, die die Hinterbliebenen erhalten, ist eine Stütze für die Familie Hattab. Nur wenige Tage nach dem 9. Januar trafen sich fast 4000 Menschen vor der großen Synagoge im Zentrum Tunis’, um Yoavs zu gedenken. Bedruckte Schilder mit der Aufschrift „Ruhe in Frieden Yoav“ standen auf den Stufen der Synagoge, beleuchtet von einem Kerzenmeer. Der Buchstabe O seines Namens war mit einem roten Halbmond und Stern bedruckt, wie der Kreis auf der tunesischen Flagge. Viele Menschen waren gekommen, um zu verdeutlichen: Yoav ist jüdisch und tunesisch.

Auch Abdelfattah Mourou, stellvertretender Chef der islamischen Partei Ennahda, sagte bei der Gedenkfeier: „Die Kugeln, die Yoav getroffen haben, haben alle Tunesier getroffen.“

Batou Hattab ist dankbar für die persönlichen Bekundungen, die er von Mourou und dem tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi bekam. „Es gab aber keine offizielle Mitleidsbekundung der Regierung“, sagt er. Das wirft er den Politikern in Tunis vor.

Sicher hätte ich meinen Sohn lieber in meiner Nähe begraben. Aber wie könnte ich seinen letzten Willen ausschlagen?
Batou Hattab

Sein Leben versucht er so normal wie möglich zu meistern. Er hetzt von einem Termin zum nächsten, leitet weiter – ohne große Trauerpause – die Schule, ein unauffälliges, weißes Haus; einem Quader gleich. Mit weißer Mauer und verschlossener blauer Tür. Zwei Polizisten bewachen das Gebäude. Hier wurde Yoavs Tod kaum thematisiert. Der Großrabbiner will seine Schüler nicht beunruhigen. Sie seien so jung, und er glaubt, dass Juden in Tunesien sicher sind.

Deshalb bleibt er in Tunis. Nach dem Anschlag in Paris hatte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Juden dazu aufgerufen, Schutz im Heiligen Land zu suchen. Auch um die Einreise von Hattab wurde geworben, Geld für einen Neustart angeboten. Er hat abgelehnt, versteht sich weiter als Jude und Tunesier.

Selbst der Tod seines Sohnes kann das nicht ändern – Yoav liegt in Jerusalem begraben. Es war der letzte Wille seines Sohnes: Im Supermarkt hatte Yoav die Entscheidung getroffen und sie übers Telefon einem Polizisten mitgeteilt. Er solle es dem Vater sagen.

„Sicher hätte ich meinen Sohn lieber in meiner Nähe begraben“, sagt Hattab. „Aber wie könnte ich seinen letzten Willen ausschlagen?“ Wie oft er das Grab seines Sohnes besuchen kann, weiß er nicht – es ist teuer und ein weiter Weg, den er wohl am liebsten vom Flughafen in Hammamet starten würde.

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