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„Wir werden mit den Antisemiten allein fertig“

Freier Autor
Josef Zissels ist Vorsitzender der Assoziation jüdischer Organisationen in der Ukraine. Gerüchten über die Unterwanderung der Maidan-Bewegung durch Antisemiten erteilt er eine Abfuhr.

Was für eine Biografie! 1946 in Taschkent geboren, aufgewachsen als Angehöriger einer diskriminierten Minderheit in der Sowjetunion, jahrelang wegen antikommunistischer Untergrundaktivitäten im Gulag eingesperrt – und bis heute ungebrochen. Humorvoll, ein stolzer Jude, Zionist und ukrainischer Patriot: Das ist Josef Zissels, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und Vorsitzender der Dachorganisation Vaad – der Assoziation jüdischer Organisationen in der Ukraine.

In den Räumen des American Jewish Committee in Berlin nahm Zissels auf Einladung der „Initiative Schalom“ zu den Gerüchten Stellung, die Maidan-Bewegung und die neue ukrainische Regierung sei stark von antisemitischen Elementen durchsetzt.

Wollte man Zissels’ Stellungnahme zu diesen Gerüchten in einem Wort zusammenfassen, so wäre es wohl: „Unsinn!“ Seine Organisation dokumentiert jährlich alle antisemitischen Vorfälle in der Ukraine. Einen Höchststand erreichten sie 2006. Seitdem gehen sie ständig zurück.

Keine Belehrung aus Deutschland

2013 waren es 13 Fälle. In Deutschland 1300. Und das bei einer etwa gleich großen jüdischen Bevölkerung in beiden Ländern: In der Ukraine leben, je nachdem, wie man „jüdisch“ definiert, zwischen 150.000 und 300.000 Juden; in Deutschland sind es etwas mehr als 200.000. „Wir brauchen keine Hilfe, um mit Antisemiten fertig zu werden“, sagt Zissels. „Vielleicht können wir Ihnen helfen?“

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Vor allem brauchen die Juden in der Ukraine keine Belehrungen von Deutschland. Zissels ist sich der Ironie bewusst, dass ausgerechnet Deutsche die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung als ultranationalistisch und antisemitisch brandmarken, um ausgerechnet das Vorgehen Russlands zu rechtfertigen.

Sind doch Deutschland und Russland die beiden Länder, die in den 1930er- und 1940er-Jahren aus der Ukraine die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) machten. „Warum wandern Sie nicht aus?“, fragt ihn ein deutsch-jüdischer Student. „Warum wandern Sie nicht aus?“, gibt Zissels zurück. Die Ukraine sei seine Heimat: „Aber wir Juden haben zur Not immer noch Israel.“

Keine Rabbiner mehr auf der Krim

Dorthin würden auch viele Juden aus der von Russland besetzten Krim auswandern wollen. Auf der Halbinsel gebe es keine Rabbiner mehr. So wie die meisten Juden bereits aus den von Russland besetzten Gebieten Georgiens und Moldawiens geflohen seien. Außer nach Israel würden sie in die Westukraine, nach Deutschland oder in die USA auswandern.

„Wenn wir jung genug sind, schaffen wir das. Aber wohin sollen die Krimtataren gehen?“ Zissels hat, der alten jüdischen Tradition der Solidarität mit anderen Minderheiten folgend, immer den Kontakt zu den muslismischen Tataren gesucht. Zusammen mit einem ihrer Imame trat er auf dem Maidan-Platz auf. Denn für Juden wie Muslime bietet eine tolerante, pluralistische, mit der europäischen Union verbundene Demokratie die beste Garantie ihrer Rechte.

Der osteuropäische Antisemitismus sei nur schwer mit dem westeuropäischen zu vergleichen, meint Zissels. „Wir haben weder den islamischen Faktor, noch haben wir einen linken Anti-Israelismus unter der Intelligenz.“ Die national gesinnte ukrainische Intelligenz sehe in Israel geradezu ein Vorbild.

Krim als Paradies für Schmuggler

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Die Swoboda-Partei sei früher antisemitisch gewesen, und viele ihrer Mitglieder und Wähler seien es bestimmt auch heute; aber sie habe seit Jahren auf jedwede antisemitische Rhetorik verzichtet, weil sie gemerkt habe, dass sie damit bei den Anhängern der Maidan-Bewegung nicht gut ankomme. Sie sei eine nationalistische und populistische Partei – „wie es sie in vielen europäischen Staaten gibt, auch in der Regierung, denken Sie an Österreich, an Ungarn, an die Slowakei, an Norwegen oder Moldawien.“ Oder an Geert Wilders in den Niederlanden und Marine LePen in Frankreich, könnte man hinzufügen. Die mächtigste rechtsradikale Partei Europas sei aber die von Wladimir Schirinowski in Russland.

Die Kräfte um den geflohenen Präsidenten Viktor Janukowitsch – insbesondere die berüchtigte Berkut-Sonderpolizei – hätten einerseits gestreut, die Maidan-Bewegung sei von Juden gesteuert, so Zissels, andererseits aber die Swoboda-Partei gefördert, um das Oppositionsbündnis als antisemitisch diffamieren zu können. Die „jüdische Karte“ werde in der Ukraine wie im gesamten früheren Einflussgebiet der Sowjetunion halt immer noch gern gezogen, meint Zissels; „aber sie zieht nicht mehr“.

Die Maidan-Bewegung sei die dritte Welle der ukrainischen Revolution; und anders als 1991 und 2004 würden die Revolutionäre nicht verschwinden, sondern die neue Regierung auch nach den Wahlen kontrollieren. Die Ukraine sei weniger ein Land als „ein Prozess“. Aus der Krim werde wohl unter russischer Herrschaft ein Paradies für Schmuggler, Menschen- und Drogenhändler; aber die Ukraine werde ihre Identität als europäische Demokratie suchen. Wenn man Zissels hört, fällt es schwer, kein Optimist zu sein.

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