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Meinung Theater

Die Korrektur des Kanons

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Quelle: Deutsches Theater
Brünhild? Genderfluid! Gretchen? Ein schwuler Flüchtling! Auf deutschsprachigen Bühnen grassiert die Mode, Klassiker politisch korrekt zu „überschreiben“. Weder Shakespeare noch Tschechow sind sicher vor der Korrektur durch den Zeitgeist. Der ästhetische Schaden ist dramatisch.
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Wer öfter ins Theater geht, kennt das: Wie gerne würde man ins Reich der Fantasie und Poesie gelockt werden oder mit großen Werken der Weltliteratur in abgründige Widersprüche eintauchen. Doch wo landet man? In der kärglichen Wüste dürrer Regieeinfälle, die einen Text nur als Vorlage für selbstgefällige Bescheidwisserei benutzen. Der Zeitgeist errichtet sich Denkmäler, indem er der Vergangenheit keck ans Bein pinkelt. Der neueste Trend im Theater: Klassiker werden über- oder umgeschrieben. Der Text ist klüger als der Autor, sagte Heiner Müller einmal. Die Regie ist klüger als der Autor, sagte das Regietheater. Und heute? Soll der lebende Autor automatisch klüger als ein toter Klassiker sein, solange man der Vergangenheit nur mit dem gesammelten repräsentationskritischen Werkzeug aus dem kulturwissenschaftlichen Seminar zu Leibe rücken kann. Haben Goethe, Schiller, Ibsen, Shakespeare & Co. genug für das Empowerment der Marginalisierten getan? Nein? Dann muss das geändert werden.

„Der Text ist nicht auf der Höhe des Gender-Diskurses unserer Zeit“, sagt die Dramatikerin Katja Brunner bei der Spielplanpräsentation des Deutschen Theaters Berlin. Gemeint ist Shakespeares Stück „Der Widerspenstigen Zähmung“, über das seit Jahrhunderten gestritten wird, ob es eine ins Absurde übersteigerte Männerfantasie oder ein Dokument des Frauenhasses ist. Für Brunner ist die Sache klar, sie wird „Der Widerspenstigen Zähmung“ überschreiben. In ihrer Variante soll es um „weibliche Schwesternschaft und Solidarität“ gehen, deswegen werden nur Frauen auftreten.

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Shakespeare steht nur noch als Abgekanzelter auf dem Spielplan, zudem sein Stück das einzige aus dem dramatischen Kanon ist, das beim renommierten Deutschen Theater bis Ende des Jahres auf dem Premierenzettel zu lesen ist. Die Zeichen der Zeit stehen offensichtlich auf politische Korrektur des Kanons. Peter Zadek sagte einmal, er wollte dem Publikum nicht Nachhilfeunterricht in Gemeinschaftskunde geben. Genau das sieht man allerdings heute im Theater oft als den ureigensten Aufgabenbereich. Das Über- oder Umschreiben gilt als Nonplusultra einer kritischen Kulturpraxis.

So tritt, in einer früheren Überschreibung von Brunner, die am Schauspiel Köln zu sehen war, „Richard III.“ als genderfluide „Könixin“ auf. In „hildensaga. ein königinnendrama“ ersetzt Ferdinand Schmalz am Deutschen Theater die Helden durch Hilden: Statt sich zu verstreiten, stürzen Brünhild und Kriemhild gemeinsam die Herrschaft der Männer am Hof, an dem sich neben dem Prolldepp Siegfried nur eitle Gecken im grellen Federkostüm tummeln. Alles so vorausschaubar wie langweilig.

Auch Goethe und Schiller bekommen ein Update: In Fatma Aydemirs „Doktormutter Faust“ (Theater Essen) ist Faust eine Professorin für Gender Studies, die einen schwulen Flüchtling zu verführen versucht, der – Achtung, MeToo – zugleich ihr Doktorand ist. Was nicht ins zeitgeistige Programm passt, ist gleichsam wegüberschrieben worden. Bei Leonie Böhm an den Münchner Kammerspielen sind die „Räuberinnen“ eine Frauenbande auf Selbstfindungsmission, deren Mitglieder nackt über die Bühne schlittern und sich an den entblößten Brüsten herumspielen. Schillers „Ich habe große Rechte, über die Natur ungehalten zu sein“ wird zur feministischen Parole. Das Stück wurde kürzlich auch ins Repertoire des Maxim-Gorki-Theaters übernommen.

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Die gehypten Diskurse lassen sich beliebig kombinieren. So ist die Sache bei Golda Bartons gefeierter Überschreibung „Sistas!“ an der Berliner Volksbühne nicht nur feministisch, sondern zudem antirassistisch gewendet. In einer Berliner Altbauwohnung plaudern Tschechows „Drei Schwestern“ gediegen über ihr Schwarzsein und Rassismus. Und statt nach Moskau wollen sie ins gelobte Land USA, wo Identitätspolitik und Intersektionalität fließen. Das Denken von heute wird, beispielsweise bei der Repräsentation von Geschlecht, nachträglich in die Vergangenheit eingespeist. Unerträglich scheint ein Früher, das nicht auf der Höhe der Diskurse war, in denen sich die Jetztzeit bespiegelt. Warum will die Gegenwart das Vergangene so dringend ändern? Warum kein neues Stück über „weibliche Schwesternschaft und Solidarität“ schreiben, sondern einen Shakespeare überschreiben? Neue Klassiker bringt diese Revolte gegen den Kanon so nicht hervor.

Wem dient die Kanon-Korrektur?

Welchen Nutzen hat eigentlich das Publikum von der politischen Korrektur des Kanons? Wird tatsächlich die Selbstermächtigung befördert, indem man sie in Kunstwerke der Vergangenheit einschreibt? Umgekehrt: Weil sich die politisch korrekten Zeitgenossen nicht einmal in der Kunst mit moralischen Abgründen und hässlichen Widersprüchen konfrontieren, werden die Zuschauer durch die kosmetische Klassikerkorrektur nicht er-, sondern entmächtigt, in die auch heute noch konflikthafte Wirklichkeit einzugreifen.

In ihrem Essay „Der Depp als Dauerzustand“ bezeichnet die Theaterkritikerin Christine Wahl die Überschreibungsmode als „dramatisches Verlustgeschäft“. Wahl schreibt: „Die augenfälligste Maßnahme der feministisch gelabelten Kanon-‚Korrektur‘ besteht erstaunlicherweise weniger darin, den weiblichen Cast auf- als vielmehr darin, den männlichen abzuwerten.“ Männliche Figuren erscheinen als eindimensionale Deppen. Paradoxes Resultat: Dagegen gewinnt selbst noch eine lieblos geschriebene Frauenfigur. Wer in der Kunst, wohin man auch blickt, immer nur sein eigenes Antlitz sehen will, leidet an einem ästhetischen Narzissmus. Die einzige Sorge gilt dem Selbstbild, jegliche Werthaltigkeit geht verloren. Selbstermächtigung kippt in Selbstentmächtigung, wo der Kitsch über Widersprüchliches triumphiert.

Wem das gefällt? Einem Publikum, das das hypermoralische Selbstbild zum Politik- und Religionsersatz erhoben hat und sich an widerspruchsfreier Selbstbestätigung durch plumpe Meinungssoße erfreut. Wie maßstabsetzend die Überschreibung im Theaterbetrieb inzwischen ist, zeigt der diesjährige Mülheimer Dramatikpreis, der zu den bedeutendsten Auszeichnungen für Gegenwartsdramatik im deutschsprachigen Raum gehört. Die Jury hat den Preis an „Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert“ von Sivan Ben Yishai – derzeit am Staatstheater Hannover sowie am Deutschen Theater zu sehen – verliehen. Aus Ibsens „Nora oder Ein Puppenheim“ macht die 1978 in Tel Aviv geborene Autorin eine Selbstbespiegelung des Theaters. Ein „großer Anklagetext“, so schreibt es die Jury.

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Das Ibsen-Drama über Geld, Ehre und Ehe wandelt Ben Yishai zu einem Text über Repräsentation, Feminismus und Klassismus. Nora ist das Schreckbild einer weißen bürgerlichen Feministin, die aus ihrer Geschichte Geld macht. Ihr Mann Torvald ist kaum mehr als eine minderbemittelte Nebenfigur. Die wirklichen Nebenfiguren, der Paketbote oder das Kinder- und Hausmädchen, werden mit erfundenen MeToo-Vorwürfen tyrannisiert oder gleich in die Fußnoten verbannt. Der Kurzschluss von Repräsentationskritik und Ausbeutung hat seinen Reiz mehr in der Idee als in der Ausführung. Das Stück lahmt: Nora ist gemein und die Nebenfiguren sind die neuen Verdammten dieser Erde, das hat man schnell begriffen und ist weit weniger witzig als in Sophie Linnenbaums Nebenfigurenfilmkomödie „The Ordinaries“. Und weit weniger eigenständig, weil nebenher Ibsen, der große Neuerer des bürgerlichen Dramas, mit furiosem Gestus auf den Komposthaufen der Geschichte befördert werden muss.

Wie alle Verbrechen hat auch das Umarbeiten seine Moral“, schrieb der Dramatiker Peter Hacks vor fast 50 Jahren. In seinem Essay „Über das Revidieren von Klassikern“ versucht Hacks, Kriterien für das Über- und Umschreiben zu entwickeln. Dabei gibt es für ihn, der mit seiner Aristophanes-Bearbeitung „Der Frieden“ einen der größten Theatererfolge der DDR landete, eine wichtige Regel: „Klassiker sind heilig. Man darf sie nur verändern, wenn man sie verbessert.“ Und anklagen ist noch nicht verbessern.

Wenn man als Dramatiker Hand an einen Klassiker legt, so Hacks, ist das wie ein operativer Eingriff eines Arztes, der ohne genaue Kenntnisse der Anatomie meistens schiefgeht. „Eine Hebammenkunst“ nennt Hacks das in seinem „kleinen Katechismus“, man solle das Beste aus dem Stück herausholen. Und stellt eine weitere Regel auf: „Ziel des Bearbeitens ist nicht Kritik am Stück, sondern das Stück“. Was man heute meist sieht, ist allerdings genau das: Kritik am Stück, selten kluge oder überzeugende.

„Der neueste Bearbeiter sieht nicht nur die Schönheiten seiner Vorlage nicht; er schließt vor ihnen die Augen“, so Hacks. „Er hat eine Meinung vorgefasst, welcher er alles gerne opfert. Er kennt inzwischen den Begriff des dramatischen Kunstwerks, lehnt ihn aber ab.“ Selbst Hacks’ Jugendidol findet da keine Gnade: „Wie unendlich dauerhaft sind die ‚Antigone‘, der ‚Don Juan‘, der ‚Coriolan‘. Wie kurzlebig, um nicht bloß im Allgemeinen zu bleiben, sind sie gewesen, als der Brecht sie auf den Brecht gebracht hatte.“ Und heute werden sie meist noch unter Brecht gebracht.

Nicht kritisieren, sondern verbessern, macht das noch jemand? Es gibt tatsächlich nicht nur die politische korrekte, sondern auch die poetisch anspruchsvolle Überarbeitung. So basieren Roland Schimmelpfennigs „Anthropolis“-Stücke, die Karin Beier in Hamburg zum größten Theaterereignis dieser Spielzeit gemacht hat, auf antiken Klassikern. Sie bezaubern durch die Behandlung der Sprache, nicht durch Belehrung im Inhalt. Sie huldigen nicht der Hybris des Zeitgeists, sondern schaffen das, was man im Theater sucht: eine Begegnung mit dem Widersprüchlichen im Schönen. In Mülheim gab es für Schimmelpfennig zwar nicht den Hauptpreis der Jury, aber den Publikumspreis.

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