Im Bus von Santa Monica nach Pacific Palisades am frühen Nachmittag sitzen außer mir noch sieben Frauen mexikanischer Herkunft, sie steigen an verschiedenen Haltestellen ein, kennen sich aber. Sie kommen von der Arbeit, vermutlich Hausangestellte in den Villen. Man fährt sonst natürlich Auto.
Ich steige am Capri Drive aus, der den Hügel hinauf führt. Als die Gegend in den 30er-Jahren entwickelt wurde, benannte man die Straßen nach Mittelmeer-Orten. Monaco Drive. Amalfi Drive. Napoli Drive. Die Straße zum San Remo Drive hat keinen Bürgersteig, entsprechend exotisch wirkt ein Fußgänger. Auf einer leicht abschüssigen Straße sitzen zwei Jugendliche auf Skateboards. Ich frage: „Wollt ihr Rennen fahren?“
„Yeah, sort of.“
Sie warten, bis gerade kein Auto kommt und lassen rollen. Bevor sie Fahrt aufnehmen, biegt ein Wagen um die Ecke. Schluss mit Sport.
1550 San Remo Drive, hier ist das Thomas-Mann-Haus. Die Familie hat von 1942 bis 1952 in Pacific Palisades gewohnt; 2016 hat es die Bundesrepublik gekauft und daraus eine Begegnungsstätte gemacht.
Benno Herz, der Programmdirektor des Hauses, führt mich freundlicherweise herum. Als die Manns das Grundstück kauften, lag der ganze Hügel brach, zuvor wuchsen Orangen in Hainen. Jetzt wohnen hier Reiche und Film-Stars, vor dem Haus von Goldie Hawn und Kurt Russell steht eine Art Bus von einem Dienstleister, der gerade den Hund des Hauses duscht. Es ist seltsam, sich vorzustellen, dass Thomas Mann sich hier mit Hitler und Adrian Leverkühns Musik für „Doktor Faustus“ beschäftigt hat, gleich nebenan Max Horkheimer wohnte und an der Popkultur Anstoß nahm. War aber so.
Immerhin hatte Mann auch einen Hund, Pudel Niko, mit dem er morgens den San Remo Drive hinaufging, und vermutlich haben, falls nötig, auch die Hausangestellten den Hund gewaschen. Sie wohnten dort, wo heute das Büro des Thomas-Mann-Hauses ist.
Das Haus ist natürlich toll, man geht praktisch über heiligen Kies, unbedingt gemessenen Schrittes. Eher bescheidenes Entree mit Schlüsselablage, Privaträume im Obergeschoss, großer Garten. Der hübsche Pool ist aber viel später gebaut worden.
Ich mag besonders, dass es, wie soll man sagen, entkernt ist. Die Manns haben beim Umzug in die Schweiz die Gemütlichkeit mitgenommen, die Erinnerungen an Lübeck und München, die schwere Großbürgerlichkeit. Thomas Mann war gar kein großer Freund der modernen Architektur, ließ sich aber doch auf einen kalifornischen Mid-Century-Modernism-Bau ein. Zumindest von außen. Im Innern sollte es dann heimelig sein, sehr zum Verdruss des Architekten.
Heute stehen Stühle und Sessel von Richard Neutra und Rudolph Schindler im Haus, das passt gut. Obwohl Mann den maßgebenden Architekten Neutra wohl problematisch fand, „Glaskasten-Stil“. In der Ecke steht der Mann’sche Flügel, auf dem Adorno dem Zauberer zweimal die Woche Klavierstunden gegeben hat, wegen Leverkühn und der neuen Musik. Da kann man schon zum Kultur-Groupie werden, hach.
Es ist auch noch Manns Geburtstag, der 149. Nächstes Jahr wird groß gefeiert. Heute ist gar nichts. Die Stipendiaten, die hier für ein paar Monate leben und arbeiten, sind gemeinsam zu einer Exkursion aufgebrochen. Veranstaltungen gibt es an diesem Tag auch keine. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ein bisschen Budenzauber veranstaltet wird, aufgeklappte Bücher, Kerzen, frisch angespitzte Bleistifte, Schönberg-Streichquartette und Wagner-Ouvertüren über Spotify, so was mit Stefan-George-Weihe.
Auf dem Esstisch liegt eine aktuelle „Los Angeles Times“, die Schlagzeile lautet „Müde und verwirrt an der Grenze“, es geht um Migranten zwischen Mexiko und Kalifornien, nicht die zwischen Deutschland und den USA in den 40ern. Das war’s. Hier wohnen Menschen von heute, die sich in der teilweise originalen Küche der Manns morgens ihr Müsli zubereiten. Oder so.
Ich frage Benno Herz: „Sind denn gar keine Bücher hiergeblieben?“
„Abwarten“, sagt er und lächelt.
Wir gehen zu einer Tür. Linkerhand war früher eine Wendeltreppe, erzählt Herz, die aus dem Schlafzimmer im ersten Stock nach unten führte zum Arbeitszimmer, damit Thomas Mann, der sehr ruhebedürftig war, ungestört zur Tat schreiten konnte. Die Wendeltreppe ist weg, stattdessen Gäste-WC, wegen der Veranstaltungen. Na ja. Jedenfalls schließt Herz die Tür auf. Ich gehe hinein. Und, was soll ich sagen, bin ergriffen.
Die Wände voller Bücher, alte Werke, die Mann hier gelesen hat und die nachbesorgt wurden. Mann-Ausgaben. Mann-Sekundärliteratur. Hinter dem Schreibtisch, der ein schlichter Ersatz ist, weil der echte in der Schweiz steht, prunkt bis fast zur Decke Manns Sophien-Ausgabe der Werke Goethes, 143 Bände, natürlich mit Goldschnitt. Wie ein Fanal: Du musst dich an Weimar messen (und nicht nur an „Lotte in Weimar“). Eine untergegangene Welt, ich weiß. Aber fantastisch.
Es wirkt auf mich surreal. Ich stehe in diesem Zimmer mit Büchern und einem Bild von Katja Pringsheim als Kind und fühle mich unglaublich deutsch. Ein fernes Deutschland, weiter als die 10.000 Kilometer entfernt. Die Distanz wirkt verstärkend, ich bilde mir ein, etwas von dem Schmerz der Exilanten zu verstehen, denen ihr Land abhandengekommen war. Und die sich eben auch an der Sophien-Ausgabe festhielten. Ich empfinde ein überraschendes, angenehmes und unkitschiges Heimat-Gefühl.
Die alte Welt und die neue Welt. Draußen sind die Palmen zu sehen, die schon in den 40ern standen, jedenfalls vier von den sieben. Es wurden dann drei neue gepflanzt, das hätte Mann, der Zahlensymbolik gerne benutzte, sicher gut gefallen. Der Blick muss weit gegangen sein damals. 2019 nach dem „Getty Fire“ unweit in Brentwood mussten die niedrigen Hecken weggemacht werden, weil die Büsche leicht entzündbar waren, es wurden neue gepflanzt, die mittlerweile drei Meter hoch gewachsen sind.
Zurück am Capri Drive warte ich auf den Bus, in dem dann wieder Normalmenschen sitzen. Ein schickes Auto fährt vorbei und biegt ab, auf dem Nummernschild steht FEDERER. Ich zweifle nicht daran, wer drin sitzen könnte, Vorname Roger. Nebenan ist der Riviera Tennis Club. Kalifornische Gegensätze: so groovy.