Zadie Smiths Roman ist ein hinterlistiges Buch. Es fällt nicht mit der Tür ins Haus, aber dafür mit der Zimmerdecke in den Salon. In der Eingangsszene ist das Obergeschoss des wackligen Anwesens unter dem Gewicht voluminöser Bände eingestürzt. Das Bibliotheksdesaster hinterlässt einen Krater im Hause Ainsworth, das wie sein Besitzer schon bessere Zeiten gesehen hat. Der herbeigerufene Zimmermannsjunge ist erstaunt. „‚So viele Bücher. Wozu braucht er die denn alle?‘ – ‚Mr. Ainsworth ist Schriftsteller.‘ – ‚Wie – dann hat er die alle selbst geschrieben?‘ – ‚Eine überraschend große Anzahl davon.‘“
Umso überraschender der Abstieg des Star-Autors. William Harrison Ainsworth (1805–1882) war ein erfolgreicher Verfasser historischer Romane; ein Freund und Rivale von Charles Dickens, den er in seiner besten Zeit bei den Verkaufszahlen sogar übertraf, und Fixpunkt der Londoner Literatenszene. Am Beginn von „Betrug“, um 1870, ist Ainsworth nur noch eine lächerliche Figur, ein bereits zu Lebzeiten vergessener Massenproduzent unlesbarer Schwarten, der Erinnerungen an glamouröse Zeiten nachhängt und seiner Familie auf die Nerven geht.
Überdies steckt er in einer Schreibkrise, was seine Cousine Mrs. Touchet auch mit seiner aktuellen Stoffwahl – dem Jakobitenaufstand von 1745 – erklärt. „Nun, womöglich wäre ein aktuelleres oder persönlicheres Thema …“. Doch der selbstverliebte Ex-Großschriftsteller lässt sich ungern beraten, und erst recht nicht von Frauen. Eliza Touchet legt den Finger in die Wunde: „Tatsache ist, William, Romane bestehen aus fesselnden Charakteren, und du warst dein Leben lang von fesselnden Charakteren umgeben.“
William Ainsworth ist alles andere als ein fesselnder Charakter. Warum wählt Zadie Smith – die britische Erfolgsschriftstellerin der Nuller- und Zehnerjahre –, gerade ihn zum Stoff für ihren ersten historischen Roman? Abgesehen davon, dass Smith damit einen gehörige Portion Selbstironie beweist, indem sie sich selbst in einer derart marginalen (und zudem alten, weißen, männlichen) Figur der Literaturgeschichte spiegelt, dient ihr Ainsworth vor allem als Kontrastfigur.
Denn die eigentliche Protagonistin von „Betrug“ ist Eliza Touchet. Die hochbelesene und politisch interessierte Frau engagiert sich in der in den 1830ern die Gemüter erhitzenden Abolitionismus-Debatte – 1834 erlangten alle Sklaven im britischen Königreich die Freiheit. Smith dichtet ihrer Figur überdies ein selbstbestimmtes Liebesleben an: Ihre sexuellen Vorlieben lebt Eliza heimlich in einer lesbischen Beziehung zu Ainsworth erster Frau aus; mit dem Cousin selbst hat sie in jungen Jahren SM-Sex.
Dennoch erliegt Smith nicht der Versuchung, aus Eliza eine Heldin der Emanzipation avant la lettre zu machen; bei allem reformistischen Scharfsinn bleibt sie äußerlich stets im Rahmen viktorianischer Konvention; ihre eigene schriftstellerische Passion lebt sie nur im Verborgenen aus.
Smith nimmt sich sehr viel Raum, um eine sich enorm wichtig nehmende Welt voller Klatsch und Tratsch und bürgerlicher Hohlheit auszumalen, ein einziger „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (auch Thackeray hat einen Gastauftritt), der die Frage Elizas durchaus nahelegt, ob es nicht auch „aktuellere und persönliche Themen“ für einen Gegenwartsroman gebe.
Verschwörungstheorien des 19. Jahrhunderts
Es dauert lange, über die Mitte dieses 500-Seiten-Buchs hinaus, bis mit aller Schwere das eigentliche Thema in den Roman einbricht: die grausame Realität der Sklaverei in den britischen Kolonien. Das ist dann so, als würde die Decke des Salons herunterkrachen.
Eliza Touchet ist wie die britische Öffentlichkeit der 1860er- und 70er-Jahre besessen vom „Tichborne-Prozess“, einem Betrugsfall, in dem ein nach Australien ausgewanderter Metzger behauptete, der nach einem Schiffsunglück totgeglaubte Erbe einer Adelsfamilie zu sein. Ein Paradebeispiel von hysterischer öffentlicher Debatte, wo noch die absurdesten Fake News und Verschwörungstheorien ihre Anhänger fangen. (Smith lässt sich die auffälligen Parallelen zur Gegenwart nicht entgehen).
Als Zeuge im Prozess tritt der aus Jamaika stammende Kreole Andrew Bogle auf, den Eliza im Gerichtssaal kennenlernt und nach seiner Lebensgeschichte befragt. Dieser Bericht des charismatischen Mr. Bogle, dessen Vater in Westafrika versklavt wurde, ist ein Roman im Roman, der die unsichtbare Kehrseite der britischen Gesellschaft schonungslos enthüllt: einer Kultur, die auf den Gebeinen ausgebeuteter Sklaven errichtet ist, eines Gebäudes, das in Wahrheit aus Zuckerrohr und Knochen erbaut ist. Frei von Schuld ist dabei niemand, auch die Sklavenbefreierin Eliza entpuppt sich als Erbin von Blutgeld.
Dieser genial-schockhafte postkoloniale Twist der Erzählung rückt so manche harmlose Episode zuvor in ein abgründiges Zwielicht. Trügerisch war auch das Leichte, das Humoristische, sogar das vermeintlich Fortschrittliche der Geschichte. Die bittere Wahrheit des Roman liegt jenseits des Historischen. Er erzählt von dem, was eine Gesellschaft alles verschweigen und verdrängen muss, um es sich wohlergehen zu lassen.
Zadie Smith: „Betrug“. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, 528 Seiten, 26 Euro.