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  4. Literaturnobelpreis für Jon Fosse: Ein Kommentar

Meinung Nobelpreisträger Jon Fosse

Gegen den Strom

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Der Gläubige: Jon Fosse Der Gläubige: Jon Fosse
Der Gläubige: Jon Fosse
Quelle: Jessica Gow/TT/picture alliance
Jon Fosse ist der vierte Norweger, der den Literaturnobelpreis erhält. Der Dramatiker steht für eine Literatur, die sich noch ums große Ganze des Menschseins kümmert: transzendentales Obdach hieß das früher. Warum das eine überraschende Entscheidung ist.
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Jahrelang wurde Jon Fosse in dem berühmten Kreis derjenigen Autoren genannt, denen die Öffentlichkeit Chancen beim Literaturnobelpreis einräumte. Nun, als wohl kaum noch jemand damit rechnete, hat die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mitgeteilt, dass der 1959 geborene Norweger dieses Jahr mit dem prestigeträchtigen Preis ausgezeichnet wird. Eine überraschende Entscheidung. Zudem für einen Autor, der nicht dafür bekannt ist, sich zeitgeistig ins Handgemenge gesellschaftspolitischer Debatten zu stürzen, sondern sich von diesen umkämpften Arenen des Öffentlichen lieber fernhält. Als Literat ist Fosse kein Engagierter, sondern ein Enthaltsamer und Zurückgezogener.

In der Begründung werden Fosses „innovative Theaterstücke“ und Prosa gerühmt, die „dem Unsagbaren eine Stimme geben“. Ein wenig erstaunlich ist zwar auch die Aussage, vor allem aber der Zeitpunkt. Trotz der über 30 Stücke liegt Fosses große Zeit im Theater inzwischen einige Jahre zurück. Sein durchschlagender Erfolg „Der Name“ von 1995 wurde in deutscher Übersetzung im Jahr 2000 bei den Salzburger Festspielen aufgeführt, Regie führte Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne, wo die vielbeachtete Inszenierung danach zu sehen war. Zehn Jahre später feierte, wieder in Salzburg, Fosses Sophokles-Überschreibung „Tod in Theben“ deutsche Erstaufführung. Dieses Jahrzehnt war auch eine Fosse-Dekade im deutschsprachigen Theater.

Die 2000er Jahre waren sein Jahrzehnt

Die Begeisterung für den Autor der kargen Literatur aus dem europäischen Norden war groß. Als Fosse sich vom Theater zurückzog, verschwanden auch seine Stücke von den Spielplänen. Selbst ein Nachzügler wie „Starker Wind“, mehr Gedicht als Theaterstück, konnte im Herbst 2021 am Deutschen Theater Berlin die alte Leidenschaft nicht mehr entfachen. Fosse mit seinen düsteren, handlungs- und ereignisarmen Texten war nicht mehr zeitgemäß, was auch seinen vorherigen Erfolg als ein Zeitphänomen erscheinen ließ. Der skandinavische Existenzialismus wirkte zu weltabgewandt, zumal der Autor – wie er in seinem Bekenntnisbuch „Das Geheimnis des Glaubens“ darlegte – sich in den Katholizismus geflüchtet hatte.

Als Schriftsteller schöpft Fosse aus Quellen, die heute ungewöhnlich – oder anachronistisch? – anmuten. Da sind seine Herkunft aus dem bäuerlichen Milieu in Norwegen, die Hinwendung zum Glauben in seinen Zwanzigern, später die Lektüre der christlichen Mystik eines Meister Eckhart und der Eintritt in die katholische Kirche – und das zu einem Zeitpunkt, als der Vatikan eine Masse von Austritten zu verzeichnen hatte. Gegen den Strom und den Zeitgeist also, so könnte man Fosse charakterisieren. Dass seine Theaterstücke nun als „innovativ“ gewürdigt werden, als wären sie eine neue App fürs Smartphone, könnte den Gläubigen verwundern, für den auch das „Unsagbare“ eins mit dem Göttlichen sein dürfte.

Die Suche nach dem Sinn

Literarisch hat Fosse das Menschliche bis an die Grenzen der Sprache geführt, wo das Kreatürliche mit dem Erlösungsbedürftigen zusammenfällt – eine Grenzregion des Poetischen, die ihre Kraft auch aus der Sinnsuche ihres Verfassers zieht. Ob die Hoffnung nur für die Hoffnungslosen gegeben ist, wie Walter Benjamin einmal behauptete, wurde bei Fosse selbst noch einmal dem Zweifel ausgesetzt. Alles schreit zwar nach Erlösung, nur ist sie für die Menschen niemals erreichbar: „Am besten / man wäre nicht geboren … nur eines gibt Trost / der Tod / der letzte Ort“, so heißt es in „Tod in Theben“ – eine sehr bittere Pointe.

Die große Stärke von Fosse liegt im Atmosphärischen. Menschen, Sprache, Landschaft, das verdichtet sich bei ihm zu archetypischen Bildwelten, die die Düsternis der Klischees über Skandinavien noch übertreffen. Im Genre der Kriminalromane hat diese Atmosphäre in den vergangenen Jahren ein Massenpublikum gefunden, Fosse ist das auch gelungen – allerdings ohne Krimihandlung. Bei ihm wird kein Mörder gesucht, sondern die Suche selbst wird zum bestimmenden literarischen Thema – nach dem Sinn. Und weil der nicht kommt, je aktiv man auch sucht, kippt es bei Fosse in einen anderen Zustand: in das kontemplative Warten. Auch sein aktuelles Großromanprojekt mit dem Titel „Heptalogie“ knüpft ans Epos-Motiv des Suchens an. Der dritte Band, „Der andere Name“, wird auf Deutsch 2024 bei Rowohlt erscheinen.

Wenn es also doch noch Hoffnung geben sollte, dann bei Fosse im Abzug an Aktivität, darin durchaus verwandt seinen literarischen Vorbildern Samuel Beckett und Knut Hamsun (die beide den Literaturnobelpreis verliehen bekamen, wobei Hamsun nicht Besseres einfiel, als seine Medaille an Joseph Goebbels zu verschenken). Der inzwischen vierte Nobelpreis für einen norwegischen Schriftsteller, er geht mit Fosse an einen Autor, der sich schriftstellerisch an der berühmten „transzendentalen Obdachlosigkeit“ abarbeitet – ein Thema, das man – wie Fosse selbst – kaum noch auf dem Zettel hatte. Man kann sagen: Die Überraschung ist wieder einmal gelungen.

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