Wie der Mensch in die Gesellschaft passt, in dieses Geflecht aus Gesetzen, Pflichten, Verträgen, Besitztümern und Konventionen, ist das große Thema des modernen Romans. Eine Variante ist der Bildungsroman, in dem ein junges Ich seinen Neigungen nachgehen und seine geistigen oder künstlerischen Anlagen entwickeln will, während die Gesellschaft ebendies verhindert, indem sie verlangt, sich alle Flausen aus dem Kopf zu schlagen, ein nützliches Gewerbe zu erlernen oder schlicht seine Krume Brot zu verdienen.
Adelina, italienisches Gastarbeiterkind in Zürich, kann sticken. Ihre Grundschullehrerin Frau Kägi hält sie für „musisch und gestalterisch hochbegabt“ und ist so begeistert davon, dass sie den Eltern einen Besuch abstattet, die das Kind rügen, weil Adelina mit Buchstaben gar nichts anfangen kann und weder lesen noch schreiben lernen will. „Sie verstehe die Sorgen der Eltern, aber man dürfe einen Menschen nicht nach seinen Schwächen beurteilen, es seien die Stärken, die man fördern müsse, und sie wolle keine Prognose wagen, aber in der Kleinen schlummere eine Künstlerin, die der Entfaltung harre.“ Doch Frau Kägi wird schwanger, ein Herr Gruber, Offizier der Schweizer Armee, übernimmt die Klasse, und damit ist die Förderung textiler Gestaltungsfähigkeiten vorbei.
Lukas Bärfuss hat mit „Die Krume Brot“ einen Anti-Bildungsroman geschrieben, der in der Nachkriegszeit spielt, als in der eidgenössischen Gesellschaft (nicht anders als in der bundesdeutschen) für Immigranten aus dem Süden keine andere Rolle vorgesehen war als die billiger und rechtloser Arbeitssklaven.
In Richtung Zermürbung
Dass Adelinas Geschichte nicht gut ausgehen wird, weiß schon der erste Satz des Romans: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm“, und dann läuft unaufhaltsam eine Destruktionsmaschine ab, beginnend mit dem nationalistisch entflammten Großvater in der Mussolini-Ära und seinem verkorksten Verhältnis zu seinem Sohn, Adelinas Vater, der in der Emigration kein Bein auf den Boden bekommt, sich seinen Träumen von einer Intellektuellenexistenz hingibt und nichts als Schulden hinterlässt. „Unglücke geschahen keine, das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung.“
Dass Bärfuss auch Theaterautor ist, merkt man seinen Prosatexten an, die novellistisch verdichtet und von tragischer Zwangsläufigkeit sind. In „Koala“ (2014) versuchte Bärfuss, die Kausalketten zu rekonstruieren, die zum Freitod seines Bruders führen. In „Hagard“ (2017) konnte man dem erfolgreichen Unternehmer Philipp dabei zusehen, wie er mittels einer amourösen Obsession innerhalb weniger Tage seine Existenz vernichtet. Das war quasi das bourgeoise Gegenstück zu dem proletarischen Blues von „Die Krume Brot“, wo das kapitalistische System auf effiziente Weise sozialen Aufstieg verhindert. „Hagard“ zeigte, dass Selbstbestimmung auch am oberen Ende der sozialen Leiter eine Illusion ist.
In „Die Krume Brot“ führt jede Entscheidung Adelinas in neue Abhängigkeiten: Ein Techtelmechtel mit dem leichtfüßigen Fremdarbeiter Toto aus dem Mezzogiorno lässt Adelina zu Beginn der 1970er-Jahre als alleinerziehende Mutter zurück; sie arbeitet als Bardame, wenn die Tochter von einer Nachbarin betreut wird. Mit einem Privatkredit zu horrenden Zinsen gerät sie in die Schuldenfalle, ihr Vermieter verspricht der attraktiven jungen Frau Mietnachlass gegen Sex.
Als der gut situierte und kultivierte Freiberufler Emil sich Adelinas annimmt und alle ihre Schulden übernimmt, sitzt sie erneut im Käfig, jetzt mit goldenen Gittern. „Das konnte so nicht weitergehen“, tut es aber doch und führt Adelina am Ende, es ist das Jahr 1973, sogar in das Umfeld der Roten Brigaden und auf eine kriminelle Bahn, alles im guten und naiven Glauben, damit endlich Autonomie zu gewinnen.
Dieser soziale Determinismus hat etwas sehr Didaktisches, und das ist gewollt. Es geht nicht um Einfühlung, sondern um Erkenntnis. Wie im epischen Theater Brechts soll der Leser Mechanismen durchschauen, die der Figur verborgen sind. Ein Linksterrorist erklärt es Adelina dann schonungslos: „Jeder will eine Ausnahme sein … Auch du glaubst, deine Geschichte habe dich in dieses Zimmer geführt, die Entscheidungen, die du getroffen hast. Aber du hast keine eigene Geschichte. Was du erlebt hast, es ist ein Typenschicksal, Dutzendware, Stückware, ein Massenprodukt, geformt und gefertigt von der Industriegesellschaft.“
Aber im kollektiven Kampf gegen das Sklavendasein wird Adelina bloß aufs Neue instrumentalisiert. Wie Bärfuss diese letzte Seifenblase in erlebter Rede immer größer und schillernder werden und dann zerplatzen lässt, das ist meisterhaft. Sein bitterer Roman handelt von der Unmöglichkeit, ein Mensch in einer unmenschlichen Gesellschaft zu sein. Es gibt keinen Ausweg, keine Entwicklung, keinen Befreiungsschlag, nur die immer verzweifeltere Flucht von einer Abhängigkeit in die nächste. Es war vor 50 Jahren so – und ist heute nur anders, nicht besser.
Lukas Bärfuss: „Die Krume Brot“. Rowohlt, 224 Seiten, 22 Euro.