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Literatur „Das Reich Gottes“

Das Evangelium nach Emmanuel

Literarischer Korrespondent
Schon der Evangelist Lukas beugte seine Quellen: Der geflügelte Stier (hier in der Kathedrale von Padua) ist sein Symbol Schon der Evangelist Lukas beugte seine Quellen: Der geflügelte Stier (hier in der Kathedrale von Padua) ist sein Symbol
Schon der Evangelist Lukas beugte seine Quellen: Der geflügelte Stier (hier in der Kathedrale von Padua) ist sein Symbol
Quelle: Getty
Sachbuch? Roman? Autobiografie? Oder eine 500-seitige Bibelstunde? Der französische Autor Emmanuel Carrère hat ein einzigartiges Buch über das Urchristentum geschrieben – ein Testament des Zweifels.

Vielleicht geben wir nicht genug acht, wenn wir über Bücher sprechen. Wir sagen dann: Der Autor „beschäftigt sich mit“ xyz, alternativen Energien oder Beziehungsmodellen zum Beispiel, mit dem Weg zum Glück oder der Datenautobahn in die Zukunft. Oder: Der Roman „handelt von“ diesem und jenem: vom Erwachsenwerden, dem Generationenkonflikt oder der Unmöglichkeit der Liebe.

Dabei soll es doch anders sein, mit den großen Büchern: Sie beschäftigen uns und handeln von unserem eigenen Leben. Sie verändern uns, und selbst wenn sie es nicht tun, sind wir hinterher nicht mehr dieselben. Denn jetzt wissen wir, was wir nicht sind, nicht sein können oder nicht sein wollen.

„Das Reich Gottes“ von Emmanuel Carrère ist kein Werk, das sich „mit Religion beschäftigt“ oder das „von den Anfängen des Christentums handelt“. Es ist ein Buch, das den Leser in ein Gespräch verwickelt, in ein kompliziertes, tiefsinniges, tage-, wochen-, vielleicht lebenslanges Gespräch. In seligen Zeiten, als man noch an Genies und Eingebung glaubte, hätte man vielleicht gesagt, es ist ein inspiriertes Buch. Sein Stoff ist einerseits das Leben – des Autors in einem konkreten Sinne, aber auch als allgemeine Conditio humana – und andererseits das Urbild eines inspirierten, vom Heiligen Geist durchwehten Werks: die Bibel, genauer das Neue Testament. Ein Buch also über das Buch der Bücher.

Reflexion und Reportage

Carrère, geboren 1957, ist in Frankreich ein bekannter und preisgekrönter Autor und Filmemacher. Als Schriftsteller hat er an auf den ersten Blick denkbar diversen Gegenständen einen einzigartigen Stil entwickelt, der zwischen essayistischer Reflexion, Reportage und radikaler autobiografischer Selbstentblößung oszilliert. Im deutschsprachigen Raum fallen einem als Vergleichsgrößen vielleicht Stephan Wackwitz, Michael Rutschky oder David Wagner („Leben“) ein. Letzterer hat nicht zufällig Carrères letztem Buch „Alles ist wahr“ eine begeisterte Besprechung gewidmet.

Emmanuel Carrère: Das Werk des 1957 in Paris geborenen Autors und Filmemachers lässt sich in kein Genre fassen
Emmanuel Carrère: Das Werk des 1957 in Paris geborenen Autors und Filmemachers lässt sich in kein Genre fassen
Quelle: Joel Saget/AFP/Getty Images

Eine Urszene der Autobiografie ist seit den „Bekenntnissen“ des Augustinus die Bekehrung. Carrère erzählt am Anfang seines Buches von einer mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Lebensphase, als er im katholischen Christentum die Rettung aus einer Lebenskrise gefunden zu haben glaubte. Durch seine Patentante Jacqueline, eine höchst beeindruckende, fromme Dame, lernt er den charismatischen Hervé kennen, der ihm ein intimer Begleiter auf dem Weg zur Religion (und wieder aus ihr heraus) werden wird.

Ein Priester weist Carrère an, täglich in den Evangelien zu lesen und seine Gedanken dazu niederzuschreiben – die Wiederbegegnung mit diesen peinlich frömmelnden, in einer Rumpelkammer abgelegten Vers-für-Vers-Notaten zum Johannesevangelium ist ein wesentlicher Anstoß für das vorliegende Buch.

Beziehungsstatus: „Es ist kompliziert“

In Hinblick auf die Konstruktion ist das äußerst geschickt, denn durch diesen befremdeten, leicht ironischen Blick Carrères auf sein früheres Ich wird jedem Verdacht einer übergriffig-missionierenden Tendenz vorgebeugt. Ist der Autor heute gläubig? Es führt zum Kern des Buchs, dass Carrère bei seinem Beziehungsstatus zu Jesus Christus angeben müsste: „Es ist kompliziert.“

Rückblickend erscheint der täglich zur Messe gehende Musterchrist als Heuchler, der sich religiöse Inbrunst und den Besitz letzter Wahrheiten vorgaukelt. Umgekehrt wächst bei der Lektüre das Misstrauen gegenüber dem vermeintlich klaren, aufgeklärten Unglauben. Wer sich absolut sicher ist, dass es keinen Gott gibt, der hat vielleicht nicht ausreichend nachgedacht. „Im Zweifel für den Zweifel“ heißt es bei Tocotronic.

Das Sterben wird verdrängt

Der Freund Hervé verkörpert idealtypisch diese Haltung eines Menschen, für den „es nicht selbstverständlich ist, auf der Welt zu sein“, dem das Leben „ein Fragezeichen“ ist. „Viele Leute können ihr ganzes Leben verbringen, ohne von diesen Fragen berührt zu werden – oder wenn, dann nur flüchtig … Sie stellen Autos her und fahren sie, lieben, diskutieren neben der Kaffeemaschine, regen sich auf, weil es zu viele Ausländer im Land gibt, planen ihre Ferien, sorgen sich um ihre Kinder, wollen die Welt verändern, Erfolg haben, und wenn sie welchen haben, ihn nicht verlieren, sie führen Kriege, wissen, dass sie sterben werden, aber denken so wenig wie möglich daran, und all das ist wahrlich genug, um ein Leben auszufüllen.“

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Diese kurze Charakterisierung eines heutigen Normalsterblichen (wie wir fast alle welche sind) zeigt beispielhaft Carrères bewundernswerte Fähigkeit, ganz einfach, quasi volkstümlich-direkt und zugleich höchst subtil und reflektiert zu schreiben. Woher kennt man diese Kombination? Carrères Stil hat viele Quellen, nicht zuletzt die Bibel selbst. Die Evangelien sind Biografien Jesu.

Paulus und Lukas

Die beiden Hauptfiguren, denen sich Carrère nähert, kommen darin nicht vor. Paulus hat Jesus zu dessen Lebzeiten nicht gekannt; bei seinem Damaskuserlebnis begegnet er dem auferstandenen Gottessohn und bezieht daraus seine Autorität als geistlicher Führer der jüdischen Sekte, die sich Christen nennen. Lukas wiederum, Autor des Evangeliums und der daran anschließenden Apostelgeschichte, wird von Carrère als enger Begleiter von Paulus dargestellt – was wissenschaftlich umstritten ist. Doch der Autor braucht diese Verbindung, damit seine Version der biblischen Ereignisse als Erzählung funktioniert.

So kann er Lukas’ erste Begegnungen mit der unerhörten christlichen Lehre ebenso effektvoll in Szene setzen wie spätere Korrekturen des Gesamtbildes durch den direkten Kontakt mit Augenzeugen in Jerusalem (Der Gegensatz zwischen der paulinisch-griechischen Theologie und der im Judentum wurzelnden Richtung von Petrus und Jakobus wird hier auch als innerer Konflikt von Lukas erzählt).

„Das Leben Jesu“

Die Lizenz seiner erzählerischen Freiheit – etwa eine Begegnung des Evangelisten mit der steinalten Maria – kann Carrère als Methode entlehnen: auch Lukas beugte mitunter seine Quellen für die bessere Wirkung. Mit Bezug auf Ernest Renans Klassiker „Das Leben Jesu“ charakterisiert Carrère sein Prinzip: Es sei frei zu erfinden unter der Bedingung, „dass ich meine Erfindungen kenntlich mache und so genau wie Renan ihren Wahrscheinlichkeitsgrad zwischen Gesichertem, Anzunehmendem, Möglichem und, kurz vor dem völlig Ausgeschlossenen, Nichtunmöglichem bestimme“.

„Das Reich Gottes“ ist über viele Seiten ein historischer Roman, der mit großem Vorstellungsvermögen und Wissen über die antike Welt jene Lücken ausfüllt, die das Neue Testament lässt. Dass dies, über gut vierhundert Seiten nach dem langen autobiografischen Einleitungsteil, nicht langweilt, liegt am traumwandlerischen Timing des Erzählers, der immer wieder Bezüge zur Gegenwart herstellt, etwa ausgiebige, provokative Vergleiche der Rangkämpfe und ideologischen Auseinandersetzungen unter den frühen Christen mit denen der Bolschewisten. Das ist manchmal dick aufgetragen, in der Verbindung von Machtwillen und unbeirrbarem Wissen um die reine Lehre dann aber auch wieder nicht komplett abwegig.

Vom Kern einer Weltreligion

Wir haben es also mit dem bemerkenswerten Fall eines Buchs zu tun, das in seiner Form, der suchenden, tastenden, zweifelnden, mutmaßenden Erzählbewegung, dem Gegenstand vollkommen entspricht: Im Angesicht der Wunder Jesu, namentlich dem Skandalon der Auferstehung, wurden schon die unmittelbaren Zeugen zwischen Zweifeln und Hoffen und Glauben hin- und hergeworfen. Wer gar nichts weiß vom Christentum, der hat mit „Das Reich Gottes“ eine ideale Einführung in den Kern einer Weltreligion. Den Gläubigen sät es jede Menge Zweifel, Nichtgläubige mögen sich nach der Lektüre etwas weniger gewiss sein.

Emmanuel Carrère: „Das Reich Gottes“. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin. 528 Seiten, 24,90 €.
Emmanuel Carrère: „Das Reich Gottes“. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin. 528 Seiten, 24,90 €.
Quelle: Matthes & Seitz

In gewisser Hinsicht hat Carrère sein frommes Exerzitium von damals unter geändertem Vorzeichen fortgeführt. Doch auch außerhalb der Mathematik ergibt minus mal minus manchmal plus. Carrères moderne Confessio lautet so:

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„Nein. Nein, ich glaube nicht, dass Jesus auferstanden ist. Ich glaube nicht, dass ein Mensch von den Toten zurückgekehrt ist. Aber man kann es glauben, und dass ich es selbst geglaubt habe, weckt meine Neugier, fasziniert, verwirrt mich, wirft mich aus der Bahn – ich weiß nicht, welches Verb hier am besten passt. Ich schreibe dieses Buch, um mir nicht einzubilden, als Nichtmehrgläubiger mehr zu wissen als jene, die glauben, und als ich, da ich selbst noch glaubte. Ich schreibe dieses Buch, um mir selbst nicht zu sehr recht zu geben.“

Das kann heute, im Zeitalter reinster, banalster Diesseitigkeit, schon als gute Nachricht gelten, griechisch: als Evangelium.

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