WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Film
  4. Cannes: „The Substance“ & „The Shrouds“ – Zweimal Körper-Horror an der Croisette

Film Filmfestspiele von Cannes

Auf die Jugend, auf die Leichen

Managing Editor im Feuilleton WELT und WELT am Sonntag
Sue (Margaret Qualley) ist jung, schön und perfekt Sue (Margaret Qualley) ist jung, schön und perfekt
Sue (Margaret Qualley) ist jung, schön und perfekt
Quelle: Christine Tamalet/©Universal Studios
Zweimal Körper-Horror an der Croisette: Während „The Substance“ von der Bereitschaft handelt, alles zu tun, um das Altern aufzuhalten, offenbart Altmeister David Cronenberg in „The Shrouds“ eine morbide Faszination für Verwesungsprozesse. Warum das Ergebnis irritiert.
Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören
Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen.

Eine Brust wächst aus einem Mund, ein Gesicht wandert als Schleimhaufen über den Asphalt, Gedärme wachsen aus einem Rücken, Spritzen werden in offene Wunden gestoßen, gelbe Substanzen erbrochen, ein Knochen aus einem Bauchnabel gezogen, ein Monster in alle Einzelheiten zersprengt, ein voller Saal in Blut getaucht. Aber all das ist nichts gegen die Szene, bei der es einem wirklich kalt den Rücken herunterläuft.

Als sich die Tänzerin Elisabeth Sparkle (Demi Moore) in Coralie Fargeats feministischem Body-Horrorfilm „The Substance“ für ein Date fertig macht, kann man kaum hinsehen, weil der Horror sich hier in seiner ganzen alltäglichen Grausamkeit darstellt. Elisabeth ist perfekt geschminkt, trägt ein schickes Abendkleid, alles sitzt top. Aber sie selbst will das nicht wahrhaben. Die um die Fünfzigjährige schämt sich für ihr Alter, fühlt sich nicht gut genug, und mit jeder Minute, die die Verabredung näher rückt, wachsen ihre Selbstzweifel und schwindet die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Schritt aus dem Haus wagen wird.

Margaret Qualley (l.) und Demi Moore bei der Premiere von „The Substance“ in Cannes
Margaret Qualley (l.) und Demi Moore bei der Premiere von „The Substance“ in Cannes
Quelle: REUTERS

Man würde ihr so gerne sagen, dass sie sich das alles einbilde, den Schwund von Attraktivität im Alter, sie an die Hand nehmen und ihr gut zureden, dass nur der Charakter zähle. Aber das ebenfalls von der Französin Coralie Fargeat stammende Drehbuch leistet kluge Vorarbeit, sodass wir Elisabeth nicht als oberflächliche Frau mit extremen Ansichten verurteilen, sondern als rationale Akteurin, die tut, was getan werden muss. Nachdem der Fernsehsender den ehemaligen Hollywood-Star sogar aus der Rolle der Tanztrainerin in einem geschmacklosen Vorabendprogramm entlässt und nach einem Ersatz zwischen 18 und 30 Jahren sucht, hält Elisabeth es nicht mehr aus. Per Telefon bestellt sie eine dubiose Substanz. Das Versprechen des Geheimmittels: abwechselnd jeweils eine Woche lang eine jüngere, schönere, perfekte Version des eigenen Ichs sein, die andere Woche bleibt man, wer man war.

Male Gaze im Extrem

Jede zweite Woche verwandelt sich Elisabeth also in Sue (Margaret Qualley), während ihr alter Körper ohnmächtig im Badezimmer herumliegt und durch einen Schlauch von einer gelben Flüssigkeit ernährt wird. Sue bekommt den Job als Tanztrainerin. Der mit allen Wassern des Showbiz gewaschene Manager Harvey (Dennis Quaid) kann sein Glück kaum fassen. Wie Kinder tanzen er und seine Anzug-tragende Entourage um seinen neuen Star herum. Das Patriarchat und die toxische Männlichkeit treten hier nicht in Gestalt schlagender, vergewaltigender oder mordender Schurken auf, sondern als dauergrinsende Geschäftsmänner, die genauso nach den Regeln des Marktes agieren wie alle anderen.

Aus dem alten Körper schlüpft ein neuer
Aus dem alten Körper schlüpft ein neuer
Quelle: Christine Tamalet/©Universal Studios

Sue und Elisabeth wenden sich allen Warnungen zum Trotz irgendwann gegeneinander, werden Protagonistin und Antagonistin in einer gespaltenen Person. Sue ekelt sich zunehmend vor Elisabeths Gebrechlichkeit, Schwäche und Depressivität. Elisabeth wiederum erträgt den Egoismus, die betörende Naivität und Flirtsucht ihres jüngeren Abbilds nicht. Doch indem sie die jeweils andere zerstören, zerstören sie auch sich selbst.

Subtil ist die Botschaft des Gore-Splatter-Dramas nicht. Die altbekannte Dorian-Gray-Parabel bleibt wenig ambivalent. Die Allegorie wird stringent erzählt, lässt dadurch aber wenig Raum für Überraschungen oder Unaufgelöstes wie es etwa Aaron Schimbergs Berlinale-Körpertausch-Drama „A Different Man“ gelang.

Doch die Stärken von „The Substance“ liegen woanders. Etwa in einer überwältigenden Bildsprache, die so präzise wie mutig verfährt. Benjamin Kracun, der bereits für die Kamera der feministischen Rachekomödie „Promising Young Woman“ verantwortlich war, transportiert die weitgehend innere Entwicklungsgeschichte einer unsicheren Frau gekonnt auf die große Leinwand. Der ins Extrem gedrehte Male Gaze, der seiner Kamera innewohnt, scheint die nackten Frauenkörper, über die die Kamera ohne Zurückhaltung streift und dann nach ihnen grapscht, von oben bis unten zu verschlingen. Das Cannes-Publikum bricht mehrmals in lauten Jubel und Applaus aus, nicht erst beim grandiosen Ende.

David Cronenbergs „The Shrouds“

Dass die Alten durch die Jungen ersetzt werden, kann allerdings auch ein großes Glück sein. David Cronenberg, 81-jähriger Altmeister des Body-Horrors („Die Fliege“, „Crimes of the Future“), hat mit „The Shrouds“, seiner siebten Einladung in den Wettbewerb um die Goldene Palme, gezeigt, dass es manchmal besser wäre, abzudanken und das Weiterführen des eigenen Vermächtnisses neuen Stimmen zu überlassen – wie der 48-jährigen Fargeat, die Cronenberg in „The Substance“ mehrfach zitiert.

Denn „The Shrouds“ fehlen die Energie und die Hingabe, die es gebraucht hätte, um eine fesselnde Handlung zu entwickeln. So hört man dem Protagonisten Karsh (Vincent Cassel) zwei Stunden lang dabei zu, wie er sich mit einem KI-Avatar seiner verstorbenen Frau Becca (Diane Kruger) oder deren Schwester Terry (auch Diane Kruger) oder dem Ex-Mann der Schwester (Guy Pearce) oder seiner neuen Affäre Soo-Min (Sandrine Holt) über dieses und jenes unterhält. Wenig passiert, außer dass einige Gräber auf dem von ihm geführten Friedhof verwüstet werden und er irgendwann seiner verbotenen Sehnsucht nachgeht und mit der Schwester seiner toten Frau schläft, während beide den Expartner des jeweils anderen zur gegenseitigen Aufheizung aufrufen. Ein Betrug, der keiner ist.

Anzeige

Mit expliziten Gore-Szenen, wie man sie von ihm gewohnt ist, hält Cronenberg sich in seiner Leichenbeschau zurück. Nur manchmal erscheint ihm seine tote Frau, der eine Brust und ein Arm fehlt. Einmal knackst ein Knochen bedrohlich.

Karsh (Vincent Cassel) und Terry (Diane Kruger)
Karsh (Vincent Cassel) und Terry (Diane Kruger)
Quelle: Foto Sophie Giraud

Der morbide Schauplatz, den das Friedhofsrestaurant mit seinen technisch aufgerüsteten Gräbern darstellt, überzeugt immerhin als charmanter Einfall. Mit einer App kann man – eine Erfindung Karshs – auf Bildschirmen den Verwesungsprozess der begrabenen Leiche beobachten. Der Geschäftsmann selbst lässt in seinem Schlafzimmer Bilder des Skeletts seiner Frau in den verschiedenen Stadien ihres Zerfalls ablaufen. Es helfe ihm, mit der Trauer umzugehen. Er selbst hat sich schon ein Grab neben seiner Frau reserviert. „Nicht gerade schmeichelnd für zukünftig an dir interessierte Frauen“, entgegnet ihm die Dame, mit der er zum Essen verabredet ist.

„The Shrouds“ geht es um das Festhalten am Vergangenen, um das Loslassen und den Neubeginn. Man muss ihm zugutehalten, dass er moderne Technik, Smartphones, Apps und Künstliche Intelligenz elegant und unaufdringlich integriert. Ansonsten weiß das nekrophile, sich selbst äußerst ernst nehmende Drama nicht so recht, worauf es hinauswill. Und das Zuschauerinteresse ist nicht groß genug, um es unter das Seziermesser zu legen. Es gibt Dinge, denen muss man nicht unbedingt beim Verwesen zuschauen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema