Ein nicht ganz geringer Teil der Kompositionen aus den wahrscheinlich aufregendsten gut zwei Jahrzehnten der Musikgeschichte wurde in Kassibern überliefert, überdauerte in Gärten vergraben die Zeit und die Diktaturen in Kisten. Die Musik, um die es jetzt gehen soll, lag in einem New Yorker Keller. Sorgsam in Ordner verpackt. Fast vollständig vergessen. Die Musik der Maria Herz.
Große Musik, die – wie einen ziemlich großen Teil der Kompositionen jener aufregenden beiden Jahrzehnte, jener der Zwischenkriegszeit, als die Musikgeschichte gerade in Deutschland geradezu in einem Feuerwerk der Entwicklungen und Stile zu explodieren schien – fast ein Dreivierteljahrhundert niemand mehr wahrgenommen, gespielt, gehört hatte. Und das kam im Fall von Maria Herz so.
Maria Herz kam als Nesthäkchen der jüdischen Kölner Textilienhändlerfamilie Bing im Jahr von Brahms‘ Violinkonzert 1878 zur Welt. Das Bing-Haus, ehemals eine Art KaDeWe von Köln, steht immer noch am Neumarkt, beherbergt heute das Gesundheitsamt, die Nazis nutzten es als „Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege“. Mariechen, deren Musik schon früh so richtig gar nichts Mariechenhaftes, aber sehr viel Trotzköpfiges, Selbstbewusstes hat, ist begabt, studiert am Kölner Konservatorium, wird eine ausgezeichnete Pianistin und fängt an mit ersten Kompositionen.
1901 heiratet sie den jüdischen Chemiker Albert Herz. Der hält den Antisemitismus, der am Rhein gärt, nicht aus. Sie wandern aus nach England. Maria Herz bekommt vier Kinder. Komponiert weiter, organisiert in Yorkshire Gesprächskonzerte, studiert beim britischen Multikünstler Arthur E. Grimshaw.
1914 kehrt die Familie zurück nach Köln. Eine Hochzeit soll gefeiert werden. Da zieht Deutschland in den Krieg. Und Albert Herz muss mit. 1920 stirbt er an der Spanischen Grippe. Maria zieht mit ihren Kindern zum Bruder, dem Juristen Moritz Bing, und kümmert sich auch noch um dessen zwei Sprösslinge. Nebenbei nimmt sie ihre Kompositionsstudien und -arbeit wieder auf.
Ihre Stücke signiert sie, weil Jüdin- und Frausein für eine Komponistin selbst in den goldenen Zwanzigern noch geschäftsschädigend ist, mit Albert Maria Herz. Hans Rosbaud und Hermann Abendroth dirigieren ihre Werke. Sie werden im Kölner Gürzenich aufgeführt, viel gespielt, allmählich wird sie nicht nur im Rheinland weltberühmt.
Verlegt werden zu Lebzeiten trotzdem nur zwei ihrer Stücke. Selbst Adorno – der Schönbergianer und spätere Chefideologe der antiromantischen Moderne – ist ziemlich angetan vom spröden, sehr selbstbewussten, sehr eigenen musikalischen Amalgam, das Maria Herz aus den Explosionsstoffen der Zwanziger-Avantgarde zusammenkochte.
Wenn man im Schnelldurchlauf die Spielarten dieser Moderne neben der Moderne nachvollziehen möchte, die nach dem Zweiten Weltkrieg und bis fast ans Ende des 20. Jahrhunderts von der postadornitischen Avantgardepolizei totgeschwiegen wurde, kann man ihre Spuren in jenen nicht mal dreißig Kompositionen finden, das Maria Herz vom Beginn der Zwanziger bis 1935 zu Papier brachte.
Furor und emotionale Energie
Es ist, wie das CDU-Parteiprogramm vermutlich gern wäre: Der Zukunft gegenüber aufgeschlossen, aufregend konservativ, trotzig und selbstbewusst, sich an nichts und niemand anbiedernd, des Populismus völlig unverdächtig, des Aufbrausens und der spröden Zartheit fähig. Nichts zum Mitpfeifen. Idyllen sind ihre Sache nicht. Dafür hat sie vermutlich keine Zeit und zu viel erlebt.
Das Klavier-, das Cellokonzert, die vier Orchesterstücke, die Orchestersuite, die jetzt vom Rundfunksinfonie-Orchester unter Christiane Silber eingespielt worden sind, werden angetrieben vom Aneinanderreiben gegensätzlicher Linien und von einem rhythmischen Furor, einer emotionalen Energie, die man sich schwer entziehen kann.
Auf der Flucht vor dem heraufziehenden Nationalsozialismus, dem wieder unerträglich werdenden Antisemitismus in Köln verschlägt es die Familie der Maria Herz in alle Himmelsrichtungen, nach England, in die Schweiz, die USA. Maria Herz zieht von einer Adresse zur nächsten, geht mit ihrem jüngsten Sohn und der fast fertigen Partitur ihres Konzerts für Cembalo, Flöte und Streicher im Gepäck nach England, nach Birmingham. 1935 vollendet sie das Stück, mit seinen Bachanklängen auch ein Nachruf auf das kulturelle Erbe, aus dem sie vertrieben wurde.
Danach schweigt die Komponistin Maria Herz für immer. Sie hält musikalische Vorträge, etliche haben sich gehalten. Sie hält ihr Familiennetzwerk mit sehr fabelhaften Briefen zusammen. Sie geht in die USA. Die Manuskripte hat sie dabei. Sie landen nach ihrem Tod 1950 im Keller ihres Sohns, wo sie der Enkel Albert im Nachlass seines Onkels findet und 2005 der Nationalbibliothek in Zürich übergibt.
Es hätte vermutlich keinen glücklicheren Zeitpunkt geben können. In Köln erinnert man sich verstärkt seines ehemals verfemten musikalischen Erbes. Immer mehr Ensembles wie eben das Berliner Rundfunksinfonieorchester, die Pianisten Oliver Triendl und Elisaveta Blumina, das Asasello Quartett und das E-Mex-Ensemble (die im vergangenen Jahr Maria Herzens Kammermusik eingespielt haben) begeben sich, ermüdet von der Exekution des immergleichen bürgerlichen Konzertrepertoires, auf Expedition in den totgeglaubten Dschungel der wahrscheinlich aufregendsten gut zwei Jahrzehnte der Musikgeschichte und gehen mit prallvollen Botanisiertrommeln in die Schallplattenstudios.
Jetzt müssen die Werke von Walter Kaufmann und Maria Herz und all der anderen glücklich Wiederbelebten nur noch den Sprung aus den Reservaten der Raritäten-Alben in die Konzertprogramme schaffen.
Maria Herz: Orchesterwerke. Rundfunksinfonie-Orchester, Christiane Silber (Leitung), Oliver Triendl (Klavier), Konstanze von Gutzeit (Cello), Capriccio
Maria Herz: Sterne steigen dort… Asasello Quartett, E-Mex-Ensemble, Christiane Oelze (Sopran) Genius