„Es ist vorgekommen, dass ich am Telefon intime Gespräche geführt habe. Wenn ich zu weit gegangen bin, entschuldige ich mich bei denjenigen, die ich schockiert habe.“ Das ist als Entschuldigung dürftig, wenn man als Inhaber einer bedeutenden Machtposition öffentlich mit Vorwürfen konfrontiert ist, man habe diese Position ausgenutzt, seine Untergebenen in schlüpfrige Handy-Dialoge verwickelt und ihnen „Dickpics“ gesendet.
Die eingangs zitierten entschuldigenden Sätze stammen vom französischen Dirigenten François-Xavier Roth. Er hat damit auf einen Investigativartikel der französischen Satire- und Enthüllungszeitung „Le canard enchaîné“ vom 22. Mai reagiert.
Die im „Canard enchaîné“ erhobenen Roth-Vorwürfe, die sich auch auf Textnachrichten und Fotos stützen sollen, die der Redaktion des Magazins vorliegen, wiegen schwer. Sieben namentlich bekannte Musikerinnen und Musiker berichten von Übergriffen. Darunter ist Marie-Annick Nicolas, früher Konzertmeisterin beim Orchestre Philharmonique de Radio France, die angab, aus seinem Hotelzimmer von Roth zu einer „virtuellen Dusche“ eingeladen worden zu sein.
Auch Laurent Bayle, ehemaliger Intendant der Philharmonie de Paris, erklärte dem „Canard enchaîné“, dass er im Rahmen der Chefdirigentenwahl für das Orchestre de Paris (bei der Roth ein Kandidat war) von der Stadt Paris schon 2019 über solche Vorwürfe informiert worden sei.
Roth, der gerade erst vergangenes Wochenende die Berliner Philharmoniker unter Jubelstürmen durch Anton Bruckners gottesfürchtige dritte Sinfonie geleitet und anschließend eine Tournee mit seinem Orchester Les siècles begonnen hat, soll mindestens sieben Musikerinnen und Musiker per Mobiltelefon in anzügliche WhatsApp-Chats verwickelt und dann Bilder seines Geschlechtsteils verschickt haben. Die Anschuldigungen, sie bedienen das alte Machoimage des autoritär strukturierten Klassikgewerbes, sind bisher noch nicht bestätigt.
In Frankreich, wo das MeToo-Thema gerade im Vorfeld des Filmfestivals von Cannes wieder neu an Fahrt und Intensität gewonnen hat, wo Kinolegende Gérard Depardieu im Herbst ein Prozess erwartet und auch andere Berühmtheiten sich mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontiert sehen, hat man schnell reagiert. Roth, der gegenwärtig in Paris ausgerechnet Maurice Ravels erotisch-süffisanten Einakter „Die spanische Stunde“ dirigieren sollte, wo immerhin eine Ehefrau sich mit drei in Uhrkästen versteckten Liebhabern gleichzeitig vergnügt, wurde bereits am Abend des 22. Mai durch einen Kollegen ersetzt.
Seit 2015 und vertraglich bis Sommer 2025 steht Roth dem Kölner Gürzenich-Orchester als Chefdirigent und Generalmusikdirektor der Stadt der Oper Köln vor. Mitte Juni ist dort eine große Musiktheateruraufführung unter seiner Leitung geplant. Mit dem Orchester hat er eben einen (bisher) grandios klingenden sinfonischen Bruckner-Zyklus aufgenommen, der bis zu dessen 200. Geburtstag am 4. September 2024 komplett veröffentlicht werden soll.
Ab Herbst 2025 soll er zudem Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters werden. Das wird sich allerdings möglicherweise nicht schon wieder mit einem umstrittenen Chef auseinandersetzen wollen. Roth würde Nachfolger des wegen seiner ungeklärten Haltung zu Russland inzwischen seit Jahren ständig im Mittelpunkt von Debatten stehenden Teodor Currentzis werden.
Die französische Zeitung zitiert in ihrem Artikel zudem aus einem Brief eines Mitglieds des Gürzenich-Orchesters, gerichtet an den Geschäftsführenden Direktor Stefan Englert. Darin werde Roth sexuell übergriffiges Verhalten gegenüber Orchestermusikerinnen vorgeworfen. Gegenüber dem deutschen Online-Magazin „VAN“ (das von den französischen Kollegen vorab eingeweiht worden war) teilte Englert noch am 8. Mai mit, in seiner Amtszeit sei keine Beschwerde eingereicht worden, dass Roth gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (was sexuelle Belästigung einschließt) verstoßen hätte. Am Abend des 23. Mai 2024 erklärte Englert nun, Roth werde vorerst nicht mehr mit dem Gürzenich-Orchester auftreten, das oberste Ziel sei eine gründliche Aufklärung.
Daraufhin hat sich Roth dazu geäußert: „Aufgrund der Veröffentlichung eines Presseartikels, der aufdeckt, dass ich in der Vergangenheit unangemessene Textnachrichten an Musiker*innen gesendet habe, werden die Orchester, die ich leite, die beschriebenen Verhaltensweisen umfassend untersuchen und Informationen zu den Vorwürfen sammeln. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, das Gürzenich-Orchester vorerst nicht zu dirigieren, um in aller Ruhe die Durchführung der Untersuchungen zu ermöglichen. Ich entschuldige mich bei allen, die ich verletzt haben könnte.“
Schweigen beim SWR
Auch beim SWR, wo Roth von 2011 bis zu dessen Fusion mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart 2016 Musikdirektor des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg war, will man von nichts gehört haben und hüllt sich augenblicklich noch in Schweigen.
„Le Canard enchainé“ legt für das Verhalten Roths ein „Muster“ bloß: Er habe, oft spätabends, emotionale SMS verschickt. Wurde geantwortet, konterte er angeblich schnellstens mit Kuss- und Herz-Emojis. „Ein feines Kompliment, und, zack, schon folgte das Dickpic“, so die Zeitung. Zwischen 2005 und 2010, so der „Le Canard Enchaîné“, seien angeblich junge Musikerinnen in dessen Umfeld davor gewarnt worden, auf Roths Nachrichten zu reagieren. Andere hätten die Nachrichten eher als einen Initiationsritus heruntergespielt, den man hinzunehmen hätte.
In Deutschland haben seit Beginn der großen MeToo-Kampagnen 2018, die im Musikbetrieb etwa den Weltstar James Levine an der New Yorker Metropolitan Opera seinen Chefposten kosteten, einige Intendanten und sonstige Machtinhaber wegen Vorwürfen wie jenen gegen Roth gehen müssen. Allerdings ist der Klassikbetrieb auch langmütig.
Daniele Gatti zum Beispiel war 2018 vom Amsterdamer Concertgebouw Orchester wegen „unangemessenen Verhaltens gegenüber Musikerinnen des Orchesters“ fristlos als Chef entlassen worden. Im Mai 2019 hatte man sich außergerichtlich auf eine Vertragsauflösung geeinigt.
Doch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Berliner Philharmoniker, die Dresdner Staatskapelle, das Mahler Chamber Orchestra luden ihn nach Einhaltung einer kurzen Schamfrist wieder ein, nachdem er im an MeToo eher uninteressierten Italien zum Chef der Opera di Roma wie des Maggio Musicale Fiorentino avancierte. Im Herbst wird der 62-Jährige sogar Chef der Dresdner Staatskapelle.
Zu erklären ist das zu einem nicht geringen Maß mit Arbeitskräftemangel. Es herrscht eben Bedarf an wirklich guten gestandenen, mittelalten Dirigenten. An Pultstars wie dem 52-jährigen, ausgebildeten Flötisten François Xavier Roth. Der inzwischen als „FXR“ Bekannte stand lange im Schatten anderer Pultgrößen, beginnt gerade erst wirklich und weltweit durchzustarten.
Ein Kandidat für Berlin
Einen wie ihn, der ein Repertoire vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik so umfassend wie exzellent beherrscht, der sich mit Les Siècles ein eigenes Orchester von Musikern, die auf alten wie auf modernen Instrumenten zu spielen vermögen, aufgebaut hat, sich zudem in der Oper bewährt hat und eine brillante Aufnahme nach der anderen vorlegt, gibt es kaum mehr.
Deswegen war er bis jetzt bei allen bedeutenden Orchestern gefragt, schon 2017 wurde er auch Erster Gastdirigent beim London Symphony Orchestra. Er wäre ein möglicher Kandidat für die Berliner Staatskapelle wie auch für den Chefposten der Deutschen Oper Berlin gewesen.