Für die Serien war 2023 ein Seuchenjahr. Das Ende des jahrelangen Booms scheint sich anzudeuten, was in der Ankündigung von Sky („Babylon Berlin“) kulminierte, seine Produktion in Deutschland einzustellen. Dennoch gab es eine Menge toller Serien. Wir haben versucht, die besten zehn auszuwählen. Schauplätze sind das Weltall, das deutsche Bürgertum, ein Gruselhaus und die Reeperbahn. Los geht es allerdings auf dem Fußballfeld.
„Beckham“ (Netflix)
Man denkt, man weiß was und weiß natürlich nichts. So ging es mir mit der „Netflix“-Serie über David Beckham, der mir vorher nur vage als Fußballer und Ehemann von Victoria bekannt war. Jetzt weiß ich es besser: Mit Beckham war der Fußballer als Pop-Marke geboren. An ihm entlud sich der geballte Hass einer ganzen Fußballnation, nachdem er im Spiel gegen Argentinien die Rote Karte bekommen hatte. Noch monatelang wurde er in Stadien ausgebuht und erhielt Todesdrohungen. Eine Erfahrung, wie die Dokuserie eindrücklich erzählt, die ihn bis heute nicht loslässt. Nach „Beckham“ weiß man nicht nur mehr über einen erstaunlich willensstarken Mann, sondern auch über den Zeitgeist der 90er-Jahre und das damalige England. Lena Karger
„Luden“ (Amazon Prime)
Eine Warnung gleich vorweg an alle Nostalgiker, die Heimweh haben nach den Achtzigern, weil die Welt da ja noch so schön und gemütlich war. War sie nicht. Und „Luden“, die vielleicht beste und auf jeden Fall aber schmutzigste deutsche Amazon-Serien führt das vor. Und wie das Verbrechen über die Reeperbahn kam. Und wie Klaus Barkowsky, der „schöne Klaus“, der „Lamborghini-Klaus“ Anfang dieser Achtziger zum ungekrönten König der Luden aufsteigen konnte, bevor die Drogen und die internationale Mafia und Aids kamen. Wer will, kann die Legende vom Klaus auch als Metapher lesen. Letztlich war das Unternehmen des späteren Künstlers, der in diesem Jahr gestorben ist, ein auf der Ausbeutung unter Vorspiegelung falscher Gefühle abhängig gemachter Frauen beruhendes Sex-Start-up und der Klaus ein in seiner gnadenlos charmanten Charakterlosigkeit sozusagen idealtypischer CEO. Elmar Krekeler
„Sex Education“ (Netflix)
In der finalen Staffel von „Sex Education“ ist plötzlich alles anders: Die Teenager um den Hobby-Sextherapeuten Otis Milburn landen in einem neuen College, einer politisch überkorrekten Vorhölle. Hier ist jeder und alles superdivers, negative Gefühle und Worte sind verbannt. Das bringt Otis und seine Freunde an Grenzen. Neben Dick-Pics und Prostatastimulation gibt es viel Drama, so geht der lustvolle Witz zum Ende leider etwas verloren. Doch selbst das sei verziehen. „Sex Education“ bleibt ein epochales Ereignis der Seriengeschichte, mit grandiosen Schauspielern und fantastischer Ausstattung. Jakob Hayner
„Ahsoka“ (Disney+)
Nein, an die epochale Serie „Andor“, die 2022 auch „Star Wars“-Skeptiker begeisterte, kommt „Ahsoka“ nicht heran. Sie ist sogar der Gegenpol: War „Andor“ eine Emanzipation von Magie und Macht, taucht „Ahsoka“ ganz tief ein in die mystische Seite des Franchise. Märchenhafter war „Star Wars“ selten, es gibt Hexen und Beschwörungszauber. Im Maul gigantischer Weltraum-Wale lassen sich auf geheimen Fährten Wege von Galaxie zu Galaxie überwinden. Darauf muss man sich einlassen und auch auf einige Nachseh-Arbeit, denn ohne die wichtigsten Folgen der „Clone Wars“ und „Rebels“ zu kennen, verpasst man große und hochemotionale „Star Wars“-Momente. Peter Huth
„Der Untergang des Hauses Usher“ (Netflix)
Sieht so aus, als liefe der Horror der Fantasy langsam den Rang ab – was tofte für Mike Flanagan ist. Zur Krönung seiner Netflix-Horrorshow, die mit „Spuk in Hill House“ begann, ist in diesem Herbst sein „Untergang des Hauses Usher“ angelaufen, und in die insgesamt acht Folgen hat Meister Flanagan fast den ganzen Edgar Allan Poe gepackt. Inklusive Rahmen und Backstory ist das ziemlich gut gemacht, als Poe-Potpourri ist es außerdem noch lehrreich und witzig dazu. Wäre 2023 ein gutes Jahr für Serien gewesen, „Usher“ hätte es wohl nicht auf diese Liste geschafft. 2023 aber war, Hand aufs Herz, eher so mittel. Wieland Freund
„Slow Horses“ (Apple+)
Der Mann furzt, rülpst, stinkt und säuft. Nett ist er auch nicht. Aber brillant, auch beim Beleidigen. Den Leuten, deren Chef er ist, sagt er einmal, sie seien so nützlich wie ein Kondom aus Papier. Zu Recht, denn sie arbeiten, wenn man es so nennen will, in jener Abteilung des MI 5, in die man die allergrößten Versager abgeschoben hat. „Slow Horses“ ist eine Geheimagentenserie, die man nicht glauben kann: grindig, misanthrop, ohne jeden Glamour. Und unglaublich lustig, überaus spannend und fantastisch geschrieben. Gary Oldman, der schon mal in einer John-Le-Carré-Verfilmung den Mr. Smiley gespielt hat, genießt sichtbar die Rolle seines Lebens. Peter Praschl
„The Last of Us“ (Sky/Wow)
Das Jahr war noch jung, als das angeblich doch angezählte HBO dieses Kunststück fertigbrachte: einen Videospielklassiker zu verfilmen und dabei weder dessen Liebhaber noch die Masse der Seriengucker zu vergrätzen, die – vorsichtig ausgedrückt – sonst nicht die eisernsten Fans von serialisierten Videospielen sind. „The Last of Us“ aber hatte – nicht umsonst – bei beiden Erfolg. Statt sich durch eine von einer Pilz-Pandemie verheerte letzte Welt zu schießen, schauspielerten sich Pedro Pascal und Bella Ramsey bis zum Ziel – und dann war da noch diese sensationelle dritte Episode, die womöglich die beste Episode des Jahres 2023 war: Plötzlich biegt „The Last of Us“ in die Seitenstraße einer schwulen Liebesgeschichte ab, die aus Schlüssellochperspektive den ganzen Weltuntergang erzählt. Wieland Freund
„37 Sekunden“ (ARD Mediathek)
Von der ersten Szene, in der einem ein nackter Männerhintern entgegenblickt, darf man sich nicht abschrecken lassen. Sonst verpasst man eine der originellsten, präzisesten und spannendsten Auslotungen sexueller Grenzüberschreitungen der Gegenwart. Zu wem hält man – der besten Freundin, die vergewaltigt wurde, oder dem eigenen Vater, den sie dieses Verbrechens bezichtigt? Und wie kann es sein, dass Täter und Opfer beide fast deckungsgleich berichten, was in den 37 Sekunden vorgefallen ist – aber zu unterschiedlichen Urteilen darüber gelangen? Fragen wie diese lassen einen gebannt verfolgen, wie sich von der Gartenparty bis zum Gerichtsprozess ein Psychogramm von Macht und Missverständnis entfaltet. Marie-Luise Goldmann
„Hijack“ (Apple+)
Sam Nelson, Spezialist für schwierige Verhandlungen, fliegt von seinem Einsatz in Dubai nach London zurück. Doch dann wird das Flugzeug von einer recht skrupellosen Bande entführt, die keinerlei Probleme damit hat, Geiseln umzubringen. Das Geschehen eskaliert immer weiter in dieser siebenteiligen Echtzeitserie, ständig neue Wendungen, Überraschungen, Bösewichter. „Hijack“ ist eine virtuose (und immer wieder durchgeknallte) Demonstration des Schürens von Spannung: Jedes Mal, wenn man denkt, es kann schlimmer nicht kommen, kommt es selbstverständlich noch sehr viel schlimmer, bis das Flugzeug am Ende sehr tief über London fliegt und keinen Treibstoff mehr hat. Peter Praschl
„A Thin Line“ (Paramount)
Deutsche Serien auf Amazon, Netflix & Co. halten sich die Gegenwart, also die wirkliche, ja gern vom Leib wie der Teufel das Weihwasser. Düster und romantisch geht es zu, mystisch und irgendwie deutsch. Eine Unmenge Personal läuft sich in unendlichen Neben- und Subgeschichten über den Weg. „A Thin Line“, die erste Paramount-Serie. Erzählt wird die Geschichte der Zwillinge Anna und Benni. Die waren ein Herz und eine Seele. Mit dem, was dann passiert, schreitet „A Thin Line“ den Frontverlauf einer der zentralen Gegenwartsdebatten ab. Und einer Generation, die sich als letzte empfindet. Wo sind die Grenzen des Engagements, wo kippt Aktivismus in Terrorismus um. Schmutzig, direkt und ungeschönt. Elmar Krekeler