Es gab Zeiten, da war Sonntag 20.15 Uhr „Tatort“-Zeit. Noch immer schalten bei manchen Folgen der Krimireihe der ARD mehr als zehn Millionen Menschen ein. Doch die Zeiten, in denen der sonntägliche „Tatort“ ein Must-see war, sind längst vorbei. Viel eher unterhält man sich über die neuste Hit-Serie auf Netflix oder HBO.
In Bezug auf Serien haben sich die Streamingdienste also längst etabliert. Doch bei Live-Berichterstattung, Liveshows und Sport-Events haben nach wie vor die klassischen TV-Sender die Nase vor. Oder sollte es eher heißen „noch“? Denn seit geraumer Zeit planen Amazon Prime Video, Disney Plus, aber auch Netflix immer häufiger Livestreams auf ihren Plattformen. Es wäre der letzte Schritt, um das Fernsehen als Massenmedium abzulösen.
Doch das gelingt bisher nicht so richtig, wie etwa die zuletzt geplante Live-Ausgabe der Wiedersehens-Folge der Dating-Show „Liebe macht blind“ auf Netflix zeigt. Statt einer Live-Sendung am Montagmorgen, dem 17. April 2022, um zwei Uhr früh deutscher Zeit, musste die Sendung nach technischen Problemen schließlich aufgezeichnet werden.
Netflix, Amazon Prime Video und Co.: Annäherungen ans klassische TV
Die Liveübertragung wurde eigentlich mit Absicht auf den Sendeplatz der neuen Folge der Serie „Succession“ auf HBO in den USA gelegt. Die Zuschauer mussten sich also entscheiden: Schaue ich lieber Fernsehen oder streame ich Netflix? Dieses Experiment, das der Konkurrenz Druck machen sollte, ging daneben. Verflixt!
In einem Tweet entschuldigte sich Netflix bei seinen Zuschauern, dass das zuvor groß angekündigte Live-Event nicht stattfinden konnte. Eigentlich war geplant gewesen, dass wie bei einer normalen TV-Show Zuschauer sogar live ihre Fragen an die Teilnehmer der beliebten Dating-Show einsenden konnten. Das Fiasko war umso verwunderlicher, da Netflix nur wenige Wochen vorher bei der Übertragung des Stand-up-Programms des Comedians Chris Rock anscheinend keinerlei Probleme hatte.
Überhaupt schien es, als näherten sich die Streamingdienste immer mehr dem linearen Fernsehen an. Dabei war und ist doch die große Stärke der Angebote von Netflix über Paramount Plus bis hin zu Apple TV Plus, dass man jederzeit losgelöst von Raum und Zeit nach seinen eigenen Wünschen Serien, Filme und Shows schauen kann. Doch zur Wahrheit gehört auch: Wie Fernsehsender unterliegen auch Streamingdienste wirtschaftlichen Zwängen. Sie müssen Abonnenten halten und neue dazugewinnen.
Deshalb werden unter anderem die Folgen einer neuen Serienstaffel nicht mehr in einem Rutsch veröffentlicht, sondern Woche für Woche mit einer neuen Folge ausgestrahlt. Angefangen hat damit Apple TV Plus, mittlerweile wurde das Konzept von so gut wie allen Mitbewerbern übernommen – zumindest für die Hit-Formate. Meistens haben die Serien feste Wochentage, an denen eine neue Folge veröffentlicht wird: Für „Ted Lasso“ bei Apple TV plus ist es etwa der Mittwoch, gleiches gilt für die Disney-Plus-Serie „The Mandalorian“ und bei „The Marvelous Mrs. Maisel“ auf Amazon Prime Video ist es freitags.
Der Plan geht insofern auf, als dass so die meisten Fans einer Serie tatsächlich gezwungen sind, ihr Abonnement mindestens zwei Monate lang laufen zu lassen, um eine Staffel durchschauen zu können. Sie haben eben keine andere Wahl. Gut finden sie es aber deshalb noch lange nicht. Bei Fernsehsendern fällt diese Programmschwäche nicht so sehr ins Gewicht: Schließlich zahlt man für die privaten Fernsehsender RTL, ProSieben und Co. keinen Abopreis.
Konzerte und Sportübertragungen als Experimentierfelder
So hat sich etwa Disney Plus daran probiert, Elton Johns Abschiedskonzert im kalifornischen Dodger Stadium in Los Angeles live zu übertragen. Wie viele dabei live eingeschaltet haben, ist allerdings nicht bekannt. Netflix plant 2024 die Preisverleihung der „Screen Actors Guild Awards“ zu übertragen, berichtet „The Verge“.
Für Fußballfans sind Streamingdienste schon seit einiger Zeit ein Muss. Wer bestimmte Partien der Champions League live sehen möchte, benötigt ein DAZN- oder ein Amazon-Prime-Video-Abo. Laut eines Berichts des Branchenmagazins „Deadline“ bemüht sich Netflix zudem um die Übertragungsrechte für die Fußball-WM, NFL, NBA und Formel 1. Zuschlagen konnte der Streaminggigant bislang aber noch nicht. Ähnlich wie Apple TV Plus, welches sich laut Medienberichten ebenfalls um die Übertragungsrechte für die Sonntagsspiele der NFL bemüht.
Das könnte zum einen an den extrem hohen Kosten für diese Lizenzen liegen, aber auch an der fehlenden technischen Infrastruktur. Denn auch wenn es bei den meisten Streamingdiensten bereits das ein oder andere Live-Event gibt: Sie sind noch immer eine Seltenheit und die Ausnahme von der Regel. Das eingangs erwähnte Beispiel der gescheiterten Übertragung der „Liebe macht blind“-Reunion in Echtzeit zeigt außerdem, dass Netflix in Sachen Sendeablauf wahrscheinlich noch nicht genug Erfahrung hat. Da ist das klassische, lineare Fernsehen besser aufgestellt. Bei solchen Pannen hat man nur wenig Lust, dem linearen TV die kalte Schulter zu zeigen. Es wird noch einige Jahre dauern, bis die Streamingdienste diese Lücke zu den klassischen Sendern schließen können.
Die Frage lautet allerdings: Wollen sie das wirklich?
So äußerte sich etwa Netflix-Co-CEO Ted Sarandos im Gespräch mit „Deadline“ im Sommer 2021 noch zurückhaltend über mögliche Sport-Live-Events: „Unser Kernprodukt ist on demand und werbefrei, während Sportübertragungen live und vollgepackt mit Werbung sind.“ Auch in Deutschland steht man dem Streaming in Konkurrenz zum klassischen TV noch verhalten gegenüber.
Die RTL Group geht laut Jahresbericht 2021 etwa davon aus, erst ab dem Jahr 2026 mit dem Streaming-Geschäft Geld verdienen zu können. Bislang ist die Sender-eigene Plattform „RTL Plus“ eher ein Plus-minus-Null-Geschäft. Für die Verluste sorgen vor allem Investitionen in Streaming-Formate, aber auch Kosten für Marketing und Technik.
Vielmehr scheint es darauf hinauszulaufen, dass das Publikum im klassischen TV in Zukunft noch viel mehr News, Show-Inhalte, Liveübertragungen und Talks sehen wird. Inhalte, die so bislang noch nicht auf Streamingdiensten umsetzbar sind. Während Filme und Serien ihre massenmediale Heimat längst bei Paramount Plus, Wow und Co. gefunden haben. Langlaufende Formate wie die erst kürzlich angekündigte Harry-Potter-Serie für den HBO-Streamingdienst Max, die mit ihren sieben Staffeln eine Produktionszeit von mindestens zehn Jahren in Anspruch nehmen wird, weisen darauf hin.
Allerdings scheint das Thema für die Streamingdienste noch nicht vom Tisch zu sein. So deutete Warner-Brothers-CEO David Zaslav an, dass das Streamingangebot von Max noch vor Ende des Jahres 2023 um Live-Sportereignisse und Nachrichten erweitert werden soll. Wie gut das funktioniert und technisch umsetzbar ist, wird sich zeigen. Zum jetzigen Zeitpunkt steht allerdings fest: Noch können die Streamingdienste das Fernsehen nicht ersetzen.
Diese Serien kamen bei Netflix und Co. im Vorjahr besonders gut an: