WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. ICONIST
  3. Unterwegs
  4. Leben im Ausland: Was einen die Fremde lehrt, weiß Adrian Geiges

Unterwegs Globetrotter Adrian Geiges

„Die Favelabewohner sind die wahren Schwaben“

Eine Station: Kuba, hier ein Propagandaplakat in Havanna Eine Station: Kuba, hier ein Propagandaplakat in Havanna
Eine Station: Kuba, hier ein Propagandaplakat in Havanna
Quelle: Getty Images/Sven Creutzmann/Mambo Photo
Er arbeitete in Shanghai, New York und Moskau, lebte in einer Favela von Rio de Janeiro und erntete Orangen auf Kuba. Der Autor und Fernsehjournalist Adrian Geiges schreibt in seinem neuen Buch über sein polyglottes und facettenreiches Leben.

Sein Leben liest sich wie ein Roman von Graham Greene. Als junger Westdeutscher ging Adrian Geiges, 62, für ein Jahr zum Studium in die DDR, später arbeitete er in China als Manager für Bertelsmann, produzierte in New York Fernsehreportagen. Und das waren bei Weitem nicht alle Stationen. Hier sind einige Auszüge aus seinem neuen Buch „Öfter mal die Welt wechseln“.

Kuba, 1981

Ich arbeite drei Wochen als Freiwilliger in der Brigada José Marti, benannt nach dem kubanischen Poeten und Nationalhelden, der im Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier fiel. Von ihm stammen Verse des Liedes Guantanamera. „Brigada José Marti“ ist der etwas hochtrabende Name eines internationalen Ferienlagers auf Kuba – mit Arbeitseinsatz. Wir, einige Hundert Freiwillige, leben in einem Camp auf dem Land, 45 Kilometer von der Hauptstadt Havanna entfernt.

Guantanamera ist oft von Lautsprechermasten zu hören, die auf dem Gelände stehen. Fünf Leute teilen sich einen Schlafraum. Gemeinsame Sprache ist Englisch (Spanisch lerne ich erst später in Mexiko). Wenn wir morgens um 7 Uhr im Bus sitzen, der uns zur Arbeit bringen soll, krächzt aus denselben Lautsprechern die Behauptung: „The buses are leaving right now.“ Sie fahren aber noch nicht los, weshalb die Durchsage eine halbe Stunde lang wiederholt wird. Meine erste Begegnung mit der entspannten lateinamerikanischen Mentalität.

Wir ernten Orangen und bauen eine Schule, schleppen Ziegelsteine und tapezieren Wände. Wir besuchen Krankenhäuser und erfahren dort, dass Kuba das beste Gesundheitssystem in Lateinamerika habe, was wahrscheinlich stimmt, zumindest damals, als das Land von der Sowjetunion unterstützt wird und wirtschaftlich gut dasteht. In Schulen beklatschen uns die Kinder, wie in allen sozialistischen Ländern tragen sie rote Pionierhalstücher, in Kuba zusätzlich rote Röckchen die Mädchen und die Jungs rote Shorts. Die Revolution hat eine Alphabetisierungskampagne gestartet, alle können lesen und schreiben, anders als woanders in Lateinamerika – auch das stimmt.

Die unbegrenzte Macht von Partei und Staat erfahren wir bei unseren Busfahrten übers Land. Polizisten auf Motorrädern drängen entgegenkommende Autos von der Straße und zwingen sie zum Anhalten, obwohl wir auch ohne das auf den fast leeren Straßen gut vorankommen würden. In Havanna bestaunen wir das ikonische Wandbild von Che Guevara auf dem Platz der Revolution, das sich über zehn Stockwerke am Gebäude des Innenministeriums erstreckt. Darunter steht „Hasta la victoria siempre“ – „bis zum Sieg für immer“, ein Zitat aus dem Abschiedsbrief von Che Guevara an Fidel Castro, bevor Che als Revolutionär in den Kongo und nach Bolivien ging, wo er ermordet wurde.

Moskau, 1990

Während sich der Westen und ich mich für Michail Gorbatschow begeistern, zügeln die Menschen in der Sowjetunion ihren Überschwang, auch meine Kollegen beim Progress-Verlag. Gorbatschows Glasnost, Offenheit, bringt Keime von Pressefreiheit, über die Verbrechen Stalins oder die Mafia darf geschrieben werden. Gorbatschow hat die DDR und die Völker Osteuropas in die Freiheit entlassen.

Doch innerhalb der Sowjetunion reformiert er das marode sozialistische Wirtschaftssystem kaum, wenige halbherzige Schritte verschlimmern das Leben sogar. Es funktioniert nichts mehr. Die Russen sagen: Die Perestroika, der Umbau der Gesellschaft, gleiche der schrittweisen Einführung des Linksverkehrs auf den Straßen – wir fangen mit den Lastwagen an. Zynisch reagieren die Leute auf Gorbatschows Pathos, die Perestroika bringe bolsche sozialisma, mehr Sozialismus. Alle stöhnen: „Was? Noch mehr?“

Die Lebensmittelgeschäfte gehören ausnahmslos dem Staat. Sie sehen aus, als wären sie für eine antikommunistische Satire eingerichtet beziehungsweise gerade nicht eingerichtet worden. Die riesigen, schmucklosen Hallen stehen leer. An manchen Tagen liegen zwei bis drei Waren verstreut in einem der Regale, ein paar Dosen Fisch oder eine Packung mit Haferflocken. Nur selten kommt etwas Essbares herein, eine Sorte Schwarzbrot, smetana, saure Sahne oder pelmeni, mit Fleisch gefüllte Teigklößchen. Dann bilden sich Schlangen, manchmal mehr als hundert Meter lang, sodass sie sich in Spiralen durch den Laden quetschen. Manchmal wartet man Stunden in der Schlange, manchmal Tage!

Leere Regale in Russland
Leere Regale in Russland
Quelle: Shepard Sherbell/Corbis Historical/Getty Images

Die Mangelwaren verschwinden durch den tschjornyi chod, den „schwarzen Eingang“, po blatu, über Beziehungen. Jeder reißt an sich, was er bekommen kann, und tauscht es bei Bekannten gegen andere Waren ein. Wie im Krieg hat die Regierung die Grundnahrungsmittel rationiert. Dazu gehört in Russland natürlich Wodka. Auch ich bekomme als sowjetischer Werktätiger talony, Coupons auf Papier, so dünn, dass es mir scheint, ich müsse sie nutzen, bevor sie sich in Luft auflösen.

Anzeige

Mir steht eine Flasche Wodka pro Monat zu. Nun reichen mir aber die Wodka-Rationen aus, die ich als Gast bei russischen Freunden und Kolleginnen zwangsweise zu trinken bekomme. Lieber würde ich mal wieder eine Flasche Wein trinken, den gibt es in den Läden aber nicht zu kaufen. Mit einem Arbeitskollegen löse ich das Problem auf sowjetische Weise. Über einen Bekannten, der bei der Eisenbahn beschäftigt ist, bekommt er Weißwein aus Georgien. Er trinkt aber lieber Wodka. Der Kollege und ich entscheiden uns zum Tausch.

Das ist leichter gesagt als getan. Nachdem ich zwei Stunden in der Wodka-Schlange angestanden habe und meinen Coupon vorzeige, eröffnet mir die Verkäuferin, dass ich außerdem eine leere Flasche Wodka als Pfand abgeben müsse. Da ich noch keine besitze, kaufe ich mir eine leere Flasche auf dem Schwarzmarkt – zu einem Preis höher als für die volle im staatlichen Laden. Damit stelle ich mich wieder in der Schlange an.

New York, 1999

Taxi am Times Square in New York
Taxi am Times Square in New York
Quelle: Getty Images/Stone/Doug Armand

Muss man eilig irgendwohin, nimmt man in New York auch mal das Taxi. Die Fahrten sind im Vergleich zu Deutschland günstig, und man kann die Yellow Cabs überall an der Straße anhalten. Die meisten Fahrer kommen wie ich aus dem Ausland und suchen in New York ihr Glück. Einmal muss ich von West 23rd Street and 8th Avenue nach East 55th Street and 1st Avenue – mit der Kreuzung aus Street und Avenue gibt man in Manhattan an, wo man hinwill. Der indische Fahrer sagt, dies sei sein erster Arbeitstag, ob ich ihm zeigen könne, wo es langgeht.

Kein Problem, trotzdem erstaunt mich das. Hier verlaufen die Streets von Ost nach West und die Avenues von Norden nach Süden, die meisten haben Nummern statt Namen, man muss also einfach nur zählen können, um sich zurechtzufinden. Ich frage ihn, wie lange er schon in New York lebe. Er antwortet: „Das habe ich doch gerade gesagt: Heute ist mein erster Tag in New York.“ Und gleich als Taxifahrer unterwegs! Er sei vor einem Monat aus Indien in die USA gekommen, habe aber die ganze Zeit in der Küche des indischen Restaurants seines Onkels im Nachbarstaat New Jersey gearbeitet und deshalb noch nichts gesehen.

Shanghai, 2000

Der Bauboom in Shanghai führt zu leer stehenden Wohnungen zuhauf, vor allem in der höheren Preisklasse, die in jener Zeit den normalen Preisen in Deutschland entspricht. Makler reißen sich um Kunden und holen sie mit dem Chauffeur ab. Die Provision übernimmt der Vermieter. Meist sind die Wohnungen bereits möbliert.

Neubauten in Shanghai
Neubauten in Shanghai
Quelle: Getty Images/Hulton Archive/Tom Stoddart

Das gilt auch für die, die wir auswählen: in der 15. Etage der Shanghai City Apartments, vier Zimmer mit Parkettboden über 160 Quadratmeter, Miete 2300 US-Dollar, von denen das Unternehmen aber die Hälfte übernimmt. Das gehört zu den Eigenheiten des Managerlebens, die ich kennenlerne: Wer bereits besonders viel verdient, muss manch alltägliche Ausgabe gar nicht selbst begleichen.

In Shanghais kommerziellen Service-Apartments kommen noch einige Privilegien hinzu, die in der Miete eingeschlossen sind: Ehemalige Elitekämpfer der Volksbefreiungsarmee bewachen das Gebäude; dreimal wöchentlich saugt und bohnert eine fünfköpfige Putzbrigade die Wohnung; kostenlos rennen wir im Fitnesscenter und kraulen im hauseigenen Pool an Plastikpalmen vorbei; eine schnelle Eingreiftruppe von Handwerkern repariert alles zu jeder Zeit; man muss dazu nur die Models anrufen, die in weinroter Uniform hinter der Marmorrezeption in der Eingangshalle stehen.

Rio de Janeiro, 2015

Anzeige

Die Favelabewohner sind die wahren Schwaben. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ gilt hier nicht im übertragenen Sinne, sondern wortwörtlich: Die Leute bauen sich ihre Häuser selbst. Wem dazu die Fertigkeiten fehlen, der besorgt Zement und andere Baustoffe und heuert für die Arbeit Verwandte oder Nachbarn an, die so etwas schon einmal gemacht haben. Allerdings ist die Idee der Planung eine deutlich andere als etwa in Deutschland.

Aus dem Fenster blicke ich auf die schmale Gasse vor meiner Haustür. Auch nicht schlecht, weil da immer etwas los ist. Aber ich träume von der Aussicht auf den Zuckerhut und das Meer. Als mir mein Freund Adriano, einer der Motorradtaxifahrer, beim Bier von seinem Vorhaben erzählt, in unserer Favela ein Haus mit dieser Aussicht zu bauen, äußere ich sofort meinen Wunsch, mich da einzumieten.

Monate später, ich habe seither nichts mehr davon gehört: Wieder beiläufig beim Bier erzählt mir Adriano, nächste Woche könne ich in die neue Wohnung einziehen.

Blick auf den Zuckerhut
Blick auf den Zuckerhut
Quelle: Getty Images/Stone/Gonzalo Azumendi

„Nächste Woche? Das ist ja etwas kurzfristig. So schnell kann ich nicht umziehen.“

„Musst du aber, sonst gebe ich die Wohnung jemand anderem. Ich habe viele Interessenten.“

„Aber ich habe die Wohnung doch noch gar nicht gesehen!“

Wir gehen sofort dahin. Tatsächlich bietet das Haus den gigantischen Blick auf die Guanabara-Bucht und den Zuckerhut, wie ich es mir erträumt habe. Das helle Weiß der frisch gestrichenen Wände wirkt viel sympathischer und moderner als der abgebröckelte Putz meiner bisherigen Behausung. Aber in der Wohnung gibt es noch keinen Fußboden, noch keine Küche und noch kein Badezimmer. „Die paar Kleinigkeiten schaffen wir bis nächste Woche auch noch“, verspricht Adriano.

Eine Woche später, es ist ein Sonntag, ist die Wohnung tatsächlich fertig, wenn auch erst nachts gegen 22 Uhr. Jetzt solle ich einziehen, meint mein neuer Vermieter.

„Aber ich bin doch Journalist, ich brauche Internet, sonst kann ich nicht arbeiten.“

Adrian Geiges in traditioneller chinesischer Kleidung aus der Zeit der Qing-Dynastie
Adrian Geiges in traditioneller chinesischer Kleidung aus der Zeit der Qing-Dynastie
Quelle: Ellen Deng

„Kein Problem“, entgegnet Adriano. Gemeinsam gehen wir zu Leandro, dem Internet-Verantwortlichen der Favela. Klingeln gibt es hier nicht, wir stehen unter seinem Fenster und rufen: „Leandro! Leandro!“ Er hat schon geschlafen, kommt aber trotzdem nach einigen Minuten herunter, in Unterhemd und Bermudashorts. In der einen Hand trägt er eine Leiter, in der anderen eine Kabelrolle. Gemeinsam gehen wir zu dem neuen Haus. Wie James Bond steigen Adriano und Leandro über die Dächer – die Häuser sind so dicht aneinander gebaut, dass man von dem einen auf das andere kommt.

Sie schließen das Kabel an einen Mast an und führen das andere Ende durch das Fenster in meine neue Wohnung. Eine halbe Stunde später habe ich Internet. Weil das hier alle so machen, zieht sich durch die Favelas ein Salat aus Strom-, Telefon- und Internetkabeln, der bestimmt keine TÜV-Abnahme finden würde. Aber es funktioniert – solange es nicht stürmt. Sobald sich ein Unwetter abzeichnet, schicke ich schnell noch die dringendsten E-Mails raus, weil ich weiß, dass bald das Internet ausfällt oder der Strom, meistens beides. Wenn der Sturm vorbei ist, kommt Leandro und repariert das wieder.

Adrian Geiges: „Öfter mal die Welt wechseln“ist im Piper-Verlag erschienen. 240 Seiten, 18 Euro
Adrian Geiges: „Öfter mal die Welt wechseln“ist im Piper-Verlag erschienen. 240 Seiten, 18 Euro
Quelle: Piper

Adrian Geiges: „Öfter mal die Welt wechselnist im Piper-Verlag erschienen. 240 Seiten, 18 Euro

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema