Es ist Sommer, Leichtigkeit geht durch unser Land. Das liegt auch am linearen Fernsehen. Es läuft schon die Nachspielzeit, Georgiens Linksaußen Saba Lobjanidze schießt frei stehend über das Tor statt hinein. Es bleibt beim 1:1 gegen Tschechien. Alexej und Gökhan, die auf einer umfunktionierten Bierkiste vor einem Spätkauf in Berlin-Schöneberg sitzen, schauen sich fassungslos in die Augen. Wie konnte er den nicht reinmachen? Auch Fußgänger, die eigentlich auf dem Weg nach Hause in die einsame Zweizimmerwohnung waren, bleiben gebannt vor dem Spätkauf stehen. Sie wissen, gehen sie nun weiter, müssen sie daheim wieder grübeln. Bridgerton auf Netflix weiterschauen? In der undurchsichtigen ARD-Mediathek nach einer Doku suchen? Oder doch mal das Disney+-Abo nutzen, für das man seit einem Jahr sinnloserweise bezahlt?
Lineares Fernsehen nimmt diese Entscheidung ab. Es liefert, ohne Denkkraft zu fordern und lindert so den Optimierungsdruck der Moderne. In einer ausgefransten Gegenwart, die vom Individuum permanent Bekenntnisse abverlangt, um das Ich zu konstruieren, ist das Fernsehen zum Entspannungsort geworden, an dem man einfach nur sein darf.
Lassen Sie uns mal durchzappen an diesem Montagvormittag: Ein Anwalt spricht im kuscheligen ARD-Buffet über die Rechte und Pflichten von E-Roller-Fahrern, auf Arte läuft eine Doku über die norwegische Inselkette Lofoten (von den Wikingern wegen der starken Wetterumschwünge „Insel der Götter“ genannt), und auf ProSieben Maxx schnüffelt ein Spürhund am australischen Flughafen nach Drogen in Reisekoffern. Mit welcher Lässigkeit der Zuschauer zwischen biederen Verbrauchertipps, Hochkultur und Wahnsinn wechseln kann, ist einmalig.
Doch immer weniger Menschen wollen ihren Fernseher nutzen. Laut einer Studie des Burda-Verlags hat sich mittlerweile jeder Vierte vom linearen Fernsehen verabschiedet und stöbert lieber bei Streaming-Diensten und Pay-TV-Angeboten oder in Mediatheken. Vor allem bei jüngeren Menschen bis 29 Jahre sinkt die Quote seit Jahren. Und jetzt bleibt ab Juli auch noch bei Millionen von Mietern der Bildschirm schwarz, wenn sie sich nicht selbst ums Kabelfernsehen gekümmert haben, weil das Nebenkostenprivileg wegfällt.
Das langsame Sterben des Fernsehens kommt nicht ganz unverschuldet. Privatsender zeigen völlig schamfrei alte Schinken, in gesellschaftspolitischen Talkshows sitzen immer Nikolaus Blome oder Waldemar Hartmann – und die Spielfilm-Drehbücher der Öffentlich-Rechtlichen sind zu oft haarsträubend. Gibt es mal wirklich subversive Formate, zeigt man sie nach Mitternacht oder versteckt sie gleich in der Mediathek. Überall fehlt der Wille, im linearen Fernsehen überhaupt noch irgendetwas zu reißen. Stattdessen spielen die Programmmacher halb gequält das Lied zum eigenen Tod wie die Bordkapelle der Titanic.
Dabei zeigt dieser Sommer, dass lineares Fernsehen gebraucht wird. Live-Sendungen wie Spiele der Fußball-EM synchronisieren unterschiedliche Lebensmodelle, Weltanschauungen und Interessen. Vor dem Spätkauf in Berlin-Schöneberg begeistern sich der arbeitslose und alkoholkranke Alexej, der Universitätsdozent Manuel und die Fußball-Laiin Elia für das gleiche Event, diskutieren über Abseits und Gelbe Karte. Das ist nur möglich, weil das Event zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgestrahlt wird.
Wer nicht eingeschaltet hat, kann am nächsten Tag beim Büro-Smalltalk nicht mitreden. Dass heute jeder seine eigene Serie zu seiner eigenen Zeit schaut – für diese Beobachtung muss man kein Kulturpessimist sein –, entzieht der ausdifferenzierten Gesellschaft eine gemeinsame Gesprächsgrundlage. Früher sorgte für diese Lagerfeuer-Stimmung Thomas Gottschalk mit „Wetten, dass..“ – leider wurde er zu alt und ignorant. Das Bedürfnis nach kollektiver Berieselung besteht aber fort. Und EM kann nicht jeden Tag sein, auch wenn sich das viele wünschen würden.