Mit einem leisen Surren öffnet sich die türgroße Luke in der Decke über den Stufen und gibt den Weg nach draußen frei. Die Dachterrasse, mit Blick in die Baumkronen – mitten in Berlin. Sie ist der Grund, warum Fabian Freytag in die Remise im Hinterhof gezogen ist. Denn auf diese fiel der Blick des Innenarchitekten immer wieder, wenn er in der Küche seiner Wohnung im dritten Stock des Seitenflügels am Fenster stand. Als der Vermieter das leerstehende zweigeschossige Gebäude, das ursprünglich einen Pferdefutterhandel beherbergt hatte, sanierte und um ein Penthouse samt Terrasse aufstockte, war klar: Das will ich haben!
2020 unterzeichnete Freytag den Mietvertrag – für alle drei Etagen. „Ich mag die Verzahnung von Leben und Arbeit“, sagt er. Ins Erdgeschoss zog sein Büro, den ersten Stock mit den vier Meter hohen Decken verwandelte er in die „Suite“ – einen Showroom für Besprechungen, Präsentationen und kleinere Veranstaltungen – , das Penthouse wurde zur Wohnung für ihn und seinen Partner. All das, während sich die Welt draußen wegen Corona von Lockdown zu Lockdown hangelte. Wände und Türen wurden grau gestrichen, die Küche mit blassgrünen Schränken und Arbeitsplatten aus rosa Marmor ausgestattet.
Doch mit der Zeit wuchs die Unzufriedenheit, das Grau der Wände schluckte zu viel Licht, es fehlte Stauraum, und das Wichtigste: Die Räume strahlten nicht die „Lebensfreude und Positivität“ aus, die Fabian Freytag – das Magazin „AD“ zählt ihn zu Deutschlands wichtigsten Kreativen – mit seinen Interiors schaffen will. Zweieinhalb Jahre nach dem Einzug wurde die Umgestaltung in Angriff genommen, die der 39-Jährige auch in dem gerade erschienenen Band „Gently Radical Interior Design“ (Callwey) dokumentiert. Das Buch ist ein prall gefülltes Werk, in dem der preisgekrönte Innenarchitekt nicht nur seine Arbeiten präsentiert, sondern auch seine wichtigsten Einflüsse (Orte, Reisen, Designer) teilt und praktische Tipps gibt.
Als Inspiration und Basis für das Konzept des Penthouse diente ein Spaziergang von Santa Margherita über Portofino nach San Fruttoso. An der ligurischen Küste hat Freytag in den vergangenen Jahren immer wieder Urlaub gemacht. Dieses Gefühl, diese Farbwelt aus pastelligen Häuserfassaden, dem Grün und Braun der Wälder, die Spiegelungen der Sonne im Meer übersetzte er in fünf abstrakte Gemälde – von denen zwei jetzt am Essplatz hängen.
Bei der Wandfarbe für Wohnraum und Küche fiel die Wahl auf einen Pfirsichton. Eine gewagte Entscheidung, an der er während der Malerarbeiten auch zweifelte. Doch das Ergebnis bestätigte ihn: „Es strahlt sonnig, selbst an einem wolkenverhangenen Tag. Das Lichtspiel, wenn die Sonne zu unterschiedlichen Tageszeiten auf die Wände trifft, fühlt sich wie ein Tag am Meer an“, sagt Freytag und ergänzt: „Leute, seid mutig!“
Das maßgefertigte Einbaumöbel am Eingang, das die Garderobe beherbergt, ist im gleichen Ton wie die Wand („Faded Terracotta“) gestrichen, das Material – raues Holz, aus dem auch Kisten gezimmert werden – sorgt mit seiner Textur und den eingefrästen Rillen für Abwechslung. Nur der separate Schrankteil, der den Fernseher verbirgt und die Anmutung einer Pralinenschachtel hat, ist mit grünen diagonalen Streifen versehen, die den Farbton der Küchenfronten aufnehmen.
„Design ist eine Spielwiese“, sagt er. Im Schlafzimmer zitiert er Strandhütten und die Umkleidekabinen von Santa Margherita: in den Holzstreifen, die an Wand und Decke angebracht sind, und im gestreiften Stoff des Betthauptes, dessen dreieckige Silhouette wiederum ein Echo der Berge um Portofino ist.
Und anders als viele Berliner reizt ihn weder eine Datsche noch ein Wochenendhaus in der Uckermark: „Mein Landsitz ist die Dachterrasse. Um ihn zu erreichen, muss ich noch nicht mal das Haus verlassen.“
Acht Regeln der Innenarchitektur von Fabian Freytag:
1. Wahrheit im Volumen: Bei einer guten Einrichtung geht es um Gegenstände, die eine Aussage haben und Präsenz zeigen. Vor allem in kleinen Räumen groß denken. Große Muster und große Möbel sind gute Freunde!
2. Mut zu Mehr: Ein klares Ja zu bunten Farben und übertriebenen Gesten. Es darf opulent sein, aber nicht im Sinne von Versace, Liberace oder Glööckler, sondern ich meine die Kombination von Gegenständen, die Würde ausstrahlen. Betrachten Sie Mobiliar wie einen Charakter. Wollen Sie sich täglich mit einem Sitzsack unterhalten? Ich hoffe nicht!
3. Form flirtet mit Funktion: Oberstes Gesetz ist, dass das, was im Raum steht, eine Funktion haben muss. Wie viele Sessel stehen ungenutzt herum? Schaffen Sie Platz für Möbel, die benutzt werden, weil die Funktion stimmt und sie zusätzlich dem Auge schmeicheln. Funktion ohne Emotion bringt nichts. Auch Möbel wie Schränke, Sideboards oder Ablagen dürfen schön sein. Ein Gang durch die Wohnung lohnt sich: Welche Geschichte fällt mir zu welchem Möbel ein? Keine Geschichte – kein Platz!
4. Kunst des Kontrasts: Gegensätze sind die beste Basis! Alt gegen neu, rau gegen glatt, matt gegen glänzend. Und bei der Farbe? Es lohnt sich, den Farbkreis von Itten anzuschauen und komplementäre Farben zu wählen, etwa Rot und Grün. Dabei kann Rot ein Holzton, Naturstein oder Stoff sein und nicht zwangsläufig eine Wandfarbe. Verzichten Sie auf RAL-Töne, die sind zu gesättigt. Verwenden Sie Farben mit einem hohen Weißanteil. Zwei Farben sind genug, und dann mit wenigen Highlights arbeiten. Ein gestreifter Sessel, ein knallroter Stuhl oder ein Yves-Klein-blaues Bild lenken den Blick.
5. Inszenierte Inseln: Das Zuhause sollte in Inseln gedacht werden: Esstisch, Stühle, Leuchte, Teppich, Vase. Schauen Sie sich Magazin-Cover an. Eine gute Inspirationsquelle! Dabei sollten diese Inseln nicht zu Festland werden. Also Abstand lassen und die Stillleben leben lassen. Ein guter Berater: das Smartphone. Richten Sie sich Ihr Set ein, machen Sie Fotos und schauen Sie, was stört. Die Verkleinerung des Bildschirms offenbart Schwächen im Konzept.
6. Licht und Leid: Der mittlere Deckenauslass ist der Blinddarm der Innenarchitektur. Keiner braucht ihn wirklich. Vorschlag: Ersetzen Sie die Deckenleuchte durch einen Ventilator. Er ist eine Bereicherung, besonders im Sommer und im Schlafzimmer. Grundsätzlich besteht ein gutes Lichtkonzept aus den 3 „Ps“ – Putzen, Party und Privat. Eine Mischung aus Wand-, Tisch- und Stehleuchten ist ideal. Viele kleine Lichtquellen garantieren eine gute Atmosphäre. Um dem mittleren Deckenauslass ein Schnippchen zu schlagen, sind Deckenschienen ideal. Das System ist genormt, es gibt zahlreiche Spots und sogar Steckdosen und Pendelleuchten lassen sich anschließen.
7. Wunderbare Wiederholung: Farben, Materialien, Muster sollten in limitierter Anzahl definiert werden und mindestens zweimal auftauchen. Die Wiederholung macht das Konzept und schafft eine Atmosphäre der Selbstverständlichkeit. Dies ist eine Warnung, sich in Einzelentscheidungen zu verlieren. Diese müssen immer auf der Grundlage der definierten Rahmenbedingungen stattfinden.
8. Kochen statt Backen: Ich halte nicht viel von starren Regeln. Deshalb ist Backen auch komplizierter als Kochen, da es gilt, Maßeinheiten exakt einzuhalten. Langweilig! Vielmehr geht es darum, sich ein Konzept zu überlegen, was eine Reise, ein Restaurant oder ein schöner Ort sein kann. Wir alle lieben doch Rezepte, die mit einer Region verknüpft sind. Nehmen wir den Nizza-Salat. Viele einzelne Komponenten, die mehr als einen Salat, sondern ein Lebensgefühl entstehen lassen. Genauso ist es bei Möbeln. Doch verharren Sie nicht in starren Moodboards oder dogmatischen Farbkonzepten. Ein Gefühl und ein Ziel definieren und dann mit dem Zusammenstellen anfangen. Das macht ebenso Freude wie ein gutes Gericht.
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