Mitte Mai erhielt Friedemann Spicker an seinem Wohnort in Siegburg das Bundesverdienstkreuz. Vier Wochen zuvor war sein Kompagnon Jürgen Wilbert damit geehrt worden, an seinem Wohnort in Düsseldorf. Man hätte die Sache – das wäre in diesem Fall besonders passend gewesen – auch kürzer abhandeln können, indem man beide in einer gemeinsamen Veranstaltung auszeichnet: Schließlich bilden Spicker und Wilbert ein Duo – oder besser gesagt: das Duo –, das sich in Deutschland seit Jahrzehnten für den Aphorismus einsetzt, die pointierte Lebensweisheit, die kleinste literarische Gattung. Für genau dieses Engagement wurden sie geehrt. Aber gut. Deutsche Bürokratie. Sie sieht vor, dass jeder Auserwählte das Kreuz an seinem Wohnort angeheftet bekommt.
„Wenn der Begriff Aphorismus fällt, hat man schon verloren“, sagt Spicker mit einem Hauch von Resignation in der Stimme. Die einen wüssten gar nicht, was das ist. Die anderen verwechselten es mit Aphrodisiakum. Aphorismus (von griech. „aphorizein“, bestimmen, definieren) – das klingt tatsächlich ungefähr so modern wie Dampfmaschine. Dennoch ist der hintersinnige, manchmal sperrige, in jedem Fall zum Nachdenken animierende Sinnspruch nicht kleinzubekommen.
Das wird an diesem Wochenende anschaulich, denn dann geht im Stadtmuseum der Ruhrgebietsstadt Hattingen zum zehnten Mal das „Aphoristikertreffen“ über die Bühne – die deutschlandweit einmalige, seit 2004 im Zweijahrestakt stattfindende Zusammenkunft von etwa 50 Menschen, die dem Reiz des maximal verknappten Denkanstoßes erlegen sind und sich zwei Tage lang darüber austauschen.
Veranstalter ist das im Stadtmuseum angesiedelte Deutsche Aphorismus-Archiv, aus der Taufe gehoben einst von Spicker und Wilbert, die außerdem einen Förderverein ins Leben riefen und nicht müde werden, Publikationen zu dem Thema herauszugeben. „Graswurzelarbeit“, sagt Spicker, Jahrgang 1946, über die berufliche Leidenschaft seines Lebens. „Kampf gegen Windmühlenflügel“, sagt Wilbert, Jahrgang 1945. In ganz Deutschland gibt es ihnen zufolge nur ein paar hundert Menschen, die sich mit Aphorismen beschäftigten, professionell oder semiprofessionell. Ein Orchideenfach.
Seltsam, dieser Nischenstatus, wenn man bedenkt, dass kaum eine öffentliche oder private Rede ohne Aphorismen auskommt. Gäbe es sie nicht, dann gäbe es in den meisten Reden ziemlich wenig zu lachen (und zum Nachdenken). Wilbert sagt, in keiner anderen literarischen Gattung werde so viel geklaut. Viele Bonmots sind aber auch einfach zu schön, um sie zu ignorieren. Etwa, wie geschrieben für die heutige Zeit: „Gesegnet seien jene, die nichts zu sagen haben und den Mund halten“ (Oscar Wilde). Oder: „Es gibt nur einen angeborenen Irrtum – dass wir da sind, um glücklich zu sein“ (Arthur Schopenhauer). Oder: „Nur das unbefriedigte Bedürfnis ist von Dauer“ (François de La Rochefoucauld).
Im Unterschied zum Sprichwort zeichnet sich der Aphorismus vor allem dadurch aus, dass die Autorschaft bekannt ist; Sprichwörter sind in der Regel dem anonymen Volksmund zuzuschreiben. Im Laufe der Jahrhunderte hat nahezu jede Geistesgröße – ob Goethe oder Nietzsche, ob Georg Christoph Lichtenberg oder Karl Kraus – kluge Merksprüche von sich gegeben. Als Urvater der Gattung gilt Hippokrates (460-370 v. Chr.), der knappe Lehrmeinungen zu medizinischen Themen populär machte. Im Range eines unangefochtenen Großmeisters steht Stanisław Jerzy Lec (1909-1966), berühmt geworden mit seinem Band „Unfrisierte Gedanken“.
Eigentlich könnten die Zeiten für Texte im Ultrakurzformat kaum besser sein. Erst kam die SMS. Dann folgten die sozialen Medien, darunter Twitter mit seiner anfänglichen 140-Zeichen-Beschränkung. Nie gab es eine größere Zahl an kurzen Texten als heute, allein auf Facebook sollen jedes Jahr fünf Billionen Beiträge veröffentlicht werden. Und obwohl jeder weiß, dass in der Kürze die Würze liegt – ein Shakespeare-Zitat übrigens, Hamlet –, komme der Aphorismus notorisch zu kurz, klagt Wilbert doppelbödig.
Dass er eine jahrtausendelange Geschichte auf dem Buckel hat, nützt ihm herzlich wenig. Der Grund: Er ist bei Weitem nicht so mühelos zu konsumieren wie eine Botschaft auf X oder Instagram. Meistens ist er uneindeutig, ambivalent – eine Eigenschaft, die immer weniger Menschen auszuhalten imstande sind oder aushalten wollen. Der Aphorismus sei „unbequem“, bringt es Spicker auf den Punkt. Und alles Unbequeme hat es schwer.
Warum sollte man in eine Pferdekutsche steigen, wenn man bequem Auto fahren kann? Warum Festnetz, wenn das Handy alles viel einfacher macht? Was den Komfort im Leben (vermeintlich) steigert, setzt sich durch. Der Aphorismus mit seiner Kernkompetenz, Dinge zu hinterfragen, macht das Leben eher unkomfortabel. Mit einem Roman kann man sich wegträumen. Mit einer Erzählung vielleicht auch, jedenfalls so gerade eben noch.
Mit einem Gedicht wird es schon schwierig. Mit einem Aphorismus, diesem intellektuellen Snack, dieser Gedankenwegzehrung-to-go, ist es um das Entertainment-Potenzial endgültig geschehen. „Geh mit der Zeit, aber komm von Zeit zu Zeit zurück.“ „Der Weg zum Ziel ist gefährlich. Er ist die Flugbahn aller Geschosse.“ „Die Zeit schreitet voran. Und die Menschheit?“ Auf diesen Gedanken von Lec kann man eine Weile herumkauen.
Wilbert und Spicker setzen ihren Graswurzelkampf gegen die Windmühlenflügel unbeirrt fort. Sie gehen zum Beispiel in Schulen, wo sie über Aphorismen referieren und erläutern, worauf es ankommt, wenn man selbst einen schreiben will: „Auf Prägnanz. Bildsprache. Originalität. Einen Überraschungseffekt.“ Mit Blick auf die in zwei Wochen startende Fußball-Europameisterschaft wünschen sie sich, dass am Spielfeldrand ausnahmsweise mal keine Werbung in Endlosschleife über die Banden läuft, sondern ein Aphorismus von Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916): „Siege, aber triumphiere nicht.“