Ein kurzer Rückblick: Die Pariser Modenschauen im März 1988, Backstage im Showroom von Azzedine Alaïa im Stadtteil Marais. Die Show ist gelaufen, zwischen den Ständern mit der neuen Kollektion ziehen sich die Models um, einige Studenten einer Pariser Modeschule wurden für das Defilee rekrutiert, um den Models zwischen den Passagen beim hektischen Wechsel der Outfits zu helfen, darunter auch der Autor dieses Artikels.
Der Raum ist gefüllt mit einigen der schönsten Frauen der Welt, darunter Branchenlieblinge wie Marie-Sophie Wilson und Gail Elliot. Auffällig viele schwarze Models laufen für Alaïa: Iman, Veronica Webb und Romney Williams, deren damaliger Freund und baldiger Ehemann Marius Müller-Westernhagen sich geduldig im Hintergrund hält. Auf einem Ledersofa sitzt Quincy Jones und schaut dem Treiben zu. Die Stimmung ist ausgelassen.
Für Gesprächsstoff sorgt ein junges Model, das mit seiner unwirklichen Schönheit die Modewelt elektrisiert. Die 17-jährige Naomi Campbell gehört damals bereits zum engeren Kreis um Alaïa. Sie wohnt bei ihm, wenn sie in Paris zu tun hat. An seinem Küchentisch lernt Campbell viele Persönlichkeiten aus der Kunst- und Musikwelt kennen. Der Designer hat das britische Model mit jamaikanischen Wurzeln unter seine Fittiche genommen, nachdem ihr im Jahr zuvor ihre Travellerschecks gestohlen worden waren und sie völlig aufgelöst in dessen Showroom aufgetaucht war.
Der Freundschaft zwischen dem Model und dem Designer widmet die Ausstellung „Naomi in Fashion“, die an diesem Wochenende im Londoner Victoria & Albert Museum eröffnet, einen eigenen Raum. Erstmals steht ein einzelnes Model im Mittelpunkt einer Schau in der bedeutendsten Institution für Mode und Design in Großbritannien. Die Exponate stammen zum großen Teil aus Campbells Privatarchiv, wie die Kuratorin Elizabeth Murray am Telefon erzählt.
An mehreren Stellen widmet sich der Rückblick auf diese fast 40 Jahre andauernde Karriere Campbells besonderen Beziehungen zu Designern wie Yves Saint Laurent, Gianni Versace, Karl Lagerfeld, John Galliano oder Vivienne Westwood. Zu sehen sind denkwürdige Outfits wie das Versace-Kleid mit der bunten Marilyn-Monroe-Glitzerstickerei, aber auch Westwoods schwindelerregend hohe Plateau-Pumps in Blau, mit denen Campbell es 1993 erstmals auf die Titelseiten der Boulevardpresse schaffte.
Bei der Präsentation der geschichtsträchtigen „Anglomania“-Kollektion stolperte Campbell und sank unter dem johlenden Applaus der Gäste wie in Zeitlupe zu Boden. Die Aufnahmen der Show gingen um die Welt und verschafften Westwood so viel Aufmerksamkeit, dass Campbell später von anderen Designern gebeten wurde, doch bitte auch auf ihrem Laufsteg umzufallen.
Dass sie die irren Schuhe im selben Jahr noch einmal bei einer Party Westwoods trug, verrät viel über die Aufsteherqualitäten des Models, das, wie sie im Ausstellungskatalog beschreibt, wegen ihrer Hautfarbe immer doppelten Einsatz zeigen musste. „Die Schuhe hat das Museum bereits 1993 für seine Sammlung angekauft“, erklärt Murray beim Telefonat. „Ihr Name steht mit Kugelschreiber in der Innensohle“. 30 Jahre später hat das Video des Missgeschicks über 400.000 Likes auf TikTok.
Die Ausstellung blickt auch zurück auf die frühen Jahre des Models. Campbells Mutter ist Tänzerin und tourt mit einer Truppe durch Europa, die Tochter nimmt Ballettstunden und sammelt erste Erfahrungen als Komparsin in Musikvideos von Bob Marley und Culture Club. Fast aus dem Stand wird sie ab Mitte der 80er-Jahre als zukünftiger Superstar gehandelt und arbeitet früh mit den besten Fotografen. Mit 15 Jahren von einer Model-Agentin beim Shoppen in Covent Garden entdeckt (sie trägt Schuluniform mit Krawatte und Schottenrock), schafft sie es gleich in ein Shooting für das wegweisende Lifestyle-Magazin „The Face“.
Mit gerade 16 Jahren kommt Campbell als erstes schwarzes Model auf das Cover der britischen „Elle“. Wichtiger für ihr Image ist zu dieser Zeit jedoch ein Shooting für den japanischen Designer Yohji Yamamoto. Auf den Bildern des englischen Fotografen Nick Knight ist das tanzende Model zwar nur silhouettenhaft in einem roten Mantel zu sehen oder in einem grünen Outfit mit einem Apfel in der Hand, doch die Bilder haben eine derartige Wucht, dass sie als zeitlose Referenz an eine Ära in der Mode noch heute Gültigkeit haben.
Knight hat später verraten, zu welcher Musik Campbell auf den Bildern tanzt: Es ist das Demotape eines unveröffentlichten Albums von Prince, das der Musiker dem Model geschenkt hatte. Das Foto „Red Coat“ gehört der Sammlung des Museums, wird jedoch nicht ausgestellt, dafür ist der Mantel zu sehen, eine Leihgabe des Designers.
Teil der Ausstellung ist zudem das berühmte Titelmotiv der Ausgabe vom Januar 1990, das Peter Lindbergh für die britische „Vogue“ fotografierte. Das Gruppenbild zeigt Campbell neben Linda Evangelista, Christy Turlington, Tatjana Patitz und Cindy Crawford. Es läutete die Ära der Supermodels ein und inspirierte George Michael zum epochalen Videoclip zu seinem Song „Freedom 90“. Die Karriere von Naomi Campbell fing damals eigentlich erst richtig an.
Zuletzt lief die 54-Jährige unter anderem für Burberry, Valentino und Dolce & Gabbana über den Laufsteg. Ihr Bustier aus dem Musikvideo von George Michael, für das der Designer Thierry Mugler die Formgebung eines amerikanischen Straßenkreuzers zitierte, wird ebenfalls im V&A gezeigt. Genau wie einige Kleider, die sie beim einwöchigen Sozialdienst trug, zu dem ein New Yorker Gericht sie verdonnerte, weil sie ein Telefon nach einer Assistentin geworfen hatte.
Ansonsten verzichtet die Ausstellung darauf, Campbells legendäre Wutausbrüche oder ihre berüchtigte Unpünktlichkeit zu thematisieren. Darauf angesprochen antwortet die Kuratorin recht einsilbig: „Es war ein absolutes Vergnügen, mit Naomi zu arbeiten.“ Bei einem Leben wie diesem ist man ohnehin geneigt, der Protagonistin den ein oder anderen Fehltritt zu verzeihen.
„Naomi in Fashion“, zu sehen im V&A Museum in London bis 6. April 2025