Minimalisten schätzen das Einfache und kleiden sich oft mit vornehmer Zurückhaltung. Sie bevorzugen tiefgründige Texturen und hochwertige Stoffe, die wenig Raum einnehmen. Dennoch kann man neuerdings an ihren Handgelenken, am Hals oder an den Ohren gelegentlich ein Stück Schmuck entdecken, das mit seiner Präsenz fast die Luft aus dem Raum zu stehlen scheint. Woher diese neue Liebe zum opulenten Schmuck?
Das könnte man sich auch bei der aktuellen Schmuckkollektion von Purismus-Queen Jil Sander fragen. Die Marke steht heute unter der kreativen Leitung von Lucie und Luke Meier. Beim Herzstück ihrer neuen Kollektion handelt es sich um ein besonders prächtiges Collier. Es könnte auch am Hals eines Rappers funkeln, eine frisch gekrönte Königin schmücken oder das Scheinwerferlicht großer Opernbühnen reflektieren. Es besteht jedoch nicht aus Diamanten, sondern aus kreuzförmig angeordneten Kristallen. Andernfalls würde sich der Preis eher im sechsstelligen Bereich bewegen als im vierstelligen.
Auch andere Marken geben die Zurückhaltung auf, die das Schmuckdesign in den letzten Jahren geprägt hat. Die Kollektionen des noch jungen Labels von Veneda Carter wirken etwa, als hätte der Papst höchstpersönlich seine Schmuckschatulle geöffnet. Die in die USA ausgewanderte Dänin hat sich mit ihrer gleichnamigen Schmuckmarke selbstständig gemacht, davor war sie Model und hat als Stylistin für Kim Kardashian gearbeitet, die sie öffentlich zum „coolsten Mädchen der Welt“ gekürt hat. Und obwohl Carter nicht verlegen ist, ihre opulenten, grob gehämmerten goldenen Kreolen, Siegelringe und XXL-Kruzifix-Anhänger mit ebenso lauten Streetwear-Garderobe, Jogginghosen und Sneakers zu kombinieren, kommen sie auf schlichter Alltagskleidung noch besser zur Geltung.
Eine weitere Dänin trägt zur neuen Opulenz im Schmuckdesign bei. Mit dem Unterschied, dass Sophie Bille Brahe echte Diamanten verwendet, etwa für ihre Buchstabenringe, die sie Lettre de Lumière nennt und die sich von A bis Z formschön an den Finger anpassen. Die Influencerin Pernille Teisbæk trägt ihre vier B’s, die für die Anfangsbuchstaben der Vornamen ihrer vier Kinder stehen, gerne alle auf einmal. Von Weitem sieht das wie ein Schlagring aus, aber eben ein sehr eleganter (und wertvoller, denn ein Buchstabe allein kostet 10.000 Euro).
Das Ende der Zurückhaltung ist also nicht für alle erschwinglich. Doch durch die Herstellung im Labor müssen selbst große Edelsteine nicht mehr übermäßig teuer sein. Werden sie künstlich gezüchtet, statt über Millionen von Jahre unter der Erde zu entstehen, sinkt der Preis erheblich, im Schnitt um 35 Prozent. Das Funkeln ist das gleiche, selbst Profis erkennen den Unterschied nicht. Die Mystik, die der Naturstein transportiert, geht allerdings verloren.
Auch die Qualität von Modeschmuck hat sich so weit verbessert, dass der goldene Überzug eines Rings nicht mehr schon nach zehn Handwäschen abblättert. Und wer sich irgendwann die echten Diamanten leisten kann, zögert nicht mehr, sie auszuführen. Gerade gut verdienende Frauen wollen damit nicht warten, bis sie irgendwann einen Verlobungsring geschenkt bekommen.
Wer ein schlichtes Outfit mit opulentem Schmuck ergänzen will, braucht nur etwas Feingefühl. Wie auf einer Leinwand, die darauf wartet, durch einen Pinselstrich akzentuiert zu werden, fungiert das Accessoire als Fluchtpunkt für das Auge und sorgt für eine melodische Wendung. Die Begegnung von Minimalismus und Prunk könnte man im Hegelschen Sinne als die Synthese aus These und Antithese verstehen, die im Zusammenspiel eines schlichten schwarzen Kleids und eines diamantbesetzten Armreifs gipfelt. Oder anders gesagt: Coole Mädchen treffen einfach den Ton.