Besitzen Sie einen Fleecepullover? Oder eine wasserabweisende Funktionsjacke? Eine Cargohose mit genug Taschen an den Beinen, um darin den halben Haushalt zu verstauen? Und Wanderschuhe, mit denen Sie stundenlang durch die Landschaft stapfen können? Wenn Sie mindestens zwei dieser Fragen mit „Ja“ beantworten können, liegen Sie im Trend – ob Sie wollen oder nicht. Denn Kleidung, mit der man auf Wander- oder Campingausflügen richtig angezogen ist, gilt mittlerweile auch in Modemetropolen, auf Laufstegen und in sozialen Netzwerken als angesagt.
Schon seit einigen Jahren inspiriert der funktionale, geschlechtsneutrale und oft nicht besonders modisch oder gar elegant anmutende Allwetter-Outdoor-Look die Generation Z und Luxuslabels gleichermaßen. Heute ist das Phänomen so allgegenwärtig, dass Modemagazine es zu den größten Streetwear-Trends des Jahres zählen. Einen Namen hat der Stil natürlich auch: Gorpcore.
Zum ersten Mal fiel der Begriff 2017 im US-Magazin „The Cut“. In ihm steckt „Gorp“, die englische Kurzform für den bei uns als Studentenfutter bezeichneten Mix aus „good old raisins and peanuts“, den Wanderer und Outdoor-Liebhabern auf Touren durch die Natur oft als Snack dabeihaben. Ihre Kleidung greift die Gorpcore-Ästhetik auf. Aber nicht etwa als aufgehübschte Luxusversion, sondern eher „trotzig hässlich“. Funktionale Kleidung von „No-Nonsense-Marken“ wie The North Face und Patagonia stehen demnach im Zentrum der Gorpcore-Ästhetik.
Diese Ästhetik hat eine wachsende, modisch versierte Fan-Gemeinde: Gucci und The North Face schufen seit 2020 drei gemeinsame Kollektionen, Jil Sander tat sich 2021 mit der kanadischen Outdoor-Marke Arc’teryx zusammen, Loewe und On brachten 2023 gemeinsam eine Schuhkollektion heraus, das japanische Outdoor-Label And Wander kooperierte mehrfach mit Maison Kitsuné.
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Der Musiker Franc Ocean saß 2019 auf Pariser Fashion Week in Mammut-Daunenjacke und mit Arc’teryx-Mütze in der ersten Reihe bei Louis Vuitton, Rihanna trat 2023 in der Halbzeitpause des Superbowl in Schuhen auf, die einer Kooperation von MM6 Maison Margiela mit der Outdoor-Marke Salomon entsprungen waren. Bella Hadid zeigt sich oft in Funktionskleidung, auf Instagram entstehen von Südkorea bis Schweden Posts in Gorpcore-Ästhetik.
Kleidung, die eher an Schulausflüge und naturverbundene Wandergruppen erinnert als an hedonistische Modeliebhaber, ist zum globalen Trend geworden. Wie konnte das passieren? „Outdoor-Aktivitäten und Zeit in der Natur wurden in der Pandemie immer beliebter – in den Städten war wegen der Lockdowns ja nichts los“, sagt Carl Tillessen, Geschäftsführer der Trendagentur DMI (Deutsches Mode-Institut).
Die Menschen hätten ein Outdoor-Lebensgefühl entwickelt, das auch nach der Corona-Krise im urbanen Umfeld modische Spuren hinterlassen habe. Wohl wahr: Der heißbegehrte Stanley Cup etwa gilt längst als Trendaccessoire, niemand wundert sich mehr über einen Kollegen, der in Wanderschuhen ins Büro kommt und durch Geschäfte lässt sich auch in der Softshelljacke schlendern.
Doch die Verbindung zur Natur werde enger: „Vor einigen Jahren war Outdoor- und Funktionskleidung noch sehr bunt. Jetzt gibt es eine Hinwendung zu gedeckten Farben, etwa Braun- und Grüntönen, in denen man eher mit der Natur verschmilzt, statt sich von ihr abzukapseln.“ Als „Quiet Outdoor“ bezeichnet ein Trendreport der Unternehmensberatung McKinsey und des Fachmagazins „The Business of Fashion“ diese etwas leiser daherkommende Version des Outdoor-Looks.
Laut Tillessen steckt hinter der mit Pragmatismus gepaarten Nachahmung der Natur der (oft unbewusste) Wunsch, das eigene schlechte Gewissen ihr gegenüber zu beruhigen, bewusster zu konsumieren und weniger Abfall zu produzieren. „In der Konsequenz soll dann nur noch das vorgeblich Nötige, Vernünftige gekauft werden.“ Etwa eine Funktionsjacke, deren praktischer Nutzen die ästhetische Dimension übertrumpft.
Das passt gut zur deutschen Haltung gegenüber Mode. Hervorragend sogar. Denn Abstriche bei Silhouette und Ästhetik sind hier eher die Norm als die Ausnahme. Tillessen spricht von einer regelrechten Modefeindlichkeit, die auf protestantischem Gedankengut fuße und in der deutschen Kultur tief verankert sei: „Die Idee, dass es falsch oder mindestens verdächtig ist, eitel zu sein, sich zu schmücken und sich mit dem eigenen Äußeren zu beschäftigen, ist noch immer erstaunlich präsent. Deshalb gibt es auch nur wenig Austausch darüber.“
Eine Modekultur könne sich vor diesem Hintergrund kaum entwickeln: „Die Menschen hier sind oft so schlecht gekleidet, weil sie sich so wenig mit ihrer Kleidung befassen. Von nichts kommt nichts.“ In katholisch geprägten Ländern wie Italien sei das anders, so der Trendanalyst: „Dort wird Mode als Kulturgut angesehen.“ Das bestätige auch eine vom Unternehmen Bonprix in Auftrag gegebene Studie über das Mode-Bewusstsein in Europa.
Dass ausgerechnet die hiesige Einstellung zu Mode zur Schablone für einen der größten Trends der letzten Jahre wurde, klingt da fast ironisch. Aber wer sich an einem ganz normalen Tag in einer ganz normalen deutschen Stadt umsieht, könnte tatsächlich meinen, von lauter trendbewussten Menschen umgeben zu sein. Überall springt einen die Gorpcore-Ästhetik an: Jacken von The North Face und Fleecewesten von Jack Wolfskin, Rucksäcke von Tatonka, Outdoor-Schuhe von Mammut oder Salomon.
Dass Rihanna letztere beim Superbowl trug, befeuerte den Trend: „Durch Momente wie diese wird Outdoor- und Funktionskleidung popkulturell geadelt und zum Fashion-Phänomen“, so Tillessen. Frank Ocean, der 2019 mit Daunenjacke und Mütze bei Louis Vuitton erschien, gilt dem britischen Magazin „Esquire“ gar als „Posterboy der Gorpcore-Bewegung“.
Stilprägende Superstars und notorische Modeverweigerer tragen also dieselben Stücke, aus denen sich dann die zwischen Klimakrise und Konsumkultur hin- und hergerissene Generation Z ihren ganz eigenen Outdoor-Look zusammenstellt. Ein bisschen erinnert das Ganze an die Hipster der Nullerjahre. Auch sie griffen bewusst in dieselbe Ecke des Kleiderschranks wie die wenig auf Trends gebenden, vermeintlichen Spießer. Die treten aber laut Tillessen längst nicht mehr mit Krawatte, Pullunder und Hut auf, sondern mit Funktionsjacke, Rucksack und Fahrradhelm.
Diesen Stil zelebriert nun vor allem die Generation Z mit einer Mischung aus modischer Ironie und echter Begeisterung für das Outdoor-Leben. Auf diese Weise werde aus rein funktionaler Kleidung Mode, schrieb Jason Chen, der Erfinder des Gorpcore-Begriffs, schon 2017: Jede „mit Absicht ausgeführte Ästhetik“ könne „ein Look“ werden. Obendrein ist dieser Look auch noch das, was er angesichts der Begeisterung seiner Träger für die Natur sein sollte: nachhaltig. Die Teile halten lange, sind geschlechter- und generationenübergreifend tragbar und zeitlos. Selbst, wenn Sie gerade keine Lust auf Outdoor-Aktivitäten haben, sollten Sie also ihre Gorpcore-Garderobe gut aufbewahren. Denn damit liegen Sie immer im Trend. So überraschend das klingt.