Seine Falten erinnern an eine Ziehharmonika. Der sogenannte Saum sitzt am Rand des Steinbuttfilets und wird beim Zerlegen des ganzen Plattfisches abgeschnitten. Er hat keine Gräten, gilt aber als Abfallprodukt. Normalerweise landet er in der Resteschüssel. Nicht so im Sylter Hotel „Budersand“. Dort im Süden der Insel sammelt die Küchencrew um Chefkoch Felix Gabel den besonderen Fischcut und macht ihn zum seltenen Genuss. „Wir verwerten alles vom Fisch, warum sollten wir den Saum wegwerfen?“ Gabel begeistert sich für den „dicken, saftigen Abschnitt“. Der Saum hat es zwar nicht auf die Speisekarte des hoteleigenen Fine-Dining-Restaurants „Kai3“ geschafft, aber die Gäste an der Bar können ihn sich als außergewöhnlichen Snack zum Cocktail schmecken lassen.
„Wir backen den Saum im Bierteig knusprig aus“, erzählt Gabel, „bestreichen ihn mit Sauce Tartare und legen ihn dann auf ein knackiges Kartoffelbrötchen“. Diese Kreation ist jedoch nicht dauerhaft im Angebot, weil die Hauptzutat nicht immer in ausreichender Menge verfügbar ist. „Wir sammeln die Streifen und halten sie frisch, bis wir genug davon anbieten können.“ Sein Happen vom Steinbutt ist die De-luxe-Interpretation eines klassischen Fischbrötchens. Der Sylter Küchenchef hat allerdings auch nichts gegen die Standardversion, erst recht nicht, wenn sie mit „dünn geschnittenen Zwiebelringen, frischem Stremellachs und einem Senfsößchen darüber“ serviert wird.
Fischbrötchen gehören zum Urlaub am Meer wie Sandstrände, Sonnencreme und Schaumkronen auf den Wellen. Das Original kommt ohne Spielereien aus. Ein knuspriges Brötchen, frische Salatblätter, knackige Zwiebelringe und dazwischen daumendick Bismarckhering oder Matjes. Auf der Strandpromenade ein Highlight, entwickelt sich der Imbissklassiker zu Inspirationsquelle für Spitzenköche an Nord- und Ostsee.
Gelbschwanzmakrele auf Baiser-Brötchen
Kevin Fehling, dessen Restaurant „The Table“ in der Hamburger Hafencity drei Michelin-Sterne trägt, fährt auch zur See. Auf dem Kreuzfahrtschiff „MS Europa“ ist er Chef von „The Globe by Kevin Fehling“. Ganz im Sinne des Restaurant-Namens serviert er ein japanisch inspiriertes Mini-Fischbrötchen als Krone auf einer gläsernen Weltkugel: eine Scheibe glänzender Gelbschwanzmakrele umrahmt von einem mit Thunfischflocken gebackenen Baiser-Brötchen. Und als Variation die mexikanische Antwort auf das Fischbrötchen: einen Fischtaco, ebenfalls im Miniformat.
Auch Stefan Fäth macht gelegentlich Ausflüge, allerdings nicht auf hohe See. Der Küchenchef im Hamburger „Jellyfish“ tauscht den Platz in der Küche seines Sternelokals ab und an gegen den Verkaufstresen der eigenen Pop-up-Fischbude, mit der er zuletzt unter anderem die Besucher des OMR-Festivals versorgte, eines angesagten Branchen-Events für digitales Marketing. An Fäths Stand gibt es nachhaltig gefangenen Fisch, eigenhändig filetiert, dazu Dashi-Remoulade und Trüffelpommes. Ein Imbiss für anspruchsvolle Genießer, selbst der Teig für die Backfisch-Hülle stammt aus einer lokalen Bäckerei.
Doch auch das gewöhnliche Fischbrötchen wird allmählich zum Luxus. An den Küsten von Nord- und Ostsee verlieren viele Urlauber beim Blick auf die Preise in dieser Saison ihre Feriengelassenheit. Im April sorgten im Badeort Warnemünde einfache Happen für 8,50 Euro (immerhin mit selbst gebackenem Brötchen) für Verdruss. Dabei könnten solche Preise bald zur Gewohnheit werden, zumindest wenn der Hering aus den Gewässern vor den deutschen Küsten kommen soll. Inzwischen dürfen dort jährlich nicht einmal mehr 500 Tonnen gefangen werden. Ende der 1990er-Jahre waren es noch 100.000 Tonnen pro Jahr.
Um die verbleibenden Bestände zu schützen, sollen in der westlichen Ostsee nach einem Beschluss der EU-Fischereiminister überhaupt keine Heringe mehr ins Netz gehen, lediglich für kleine Kutter gibt es Ausnahmen. Und selbst wenn mehr an Bord geholt werden dürfte: Der einstige Allerweltsfisch wird zur Rarität. Durch die Erwärmung der Ostsee um bis zu 1,6 Grad schlüpfen die Larven oftmals drei Wochen zu früh und verhungern, weil ihnen als Nahrung die dann noch nicht gewachsene Salzwasseralge fehlt, wie ein Forscherteam der Universität Helsinki unlängst feststellte.
Der Preis des an gesunden Omega-3-Fettsäuren reichen Silberlings liefert gleichzeitig einen Hinweis darauf, woher der Hering zwischen den Brötchenhälften stammen könnte. Denn der vermeintlich vor deutschen Küsten eingeholte Fisch schwamm oft im Nordostatlantik: In norwegischen Gewässern gefangener Hering kostet bis zu einem Drittel weniger als der einheimische.
„Unser Hering kommt aus der Ostsee“, sagt André Münch, Chef im Gourmet-Restaurant „Der Butt“ am Warnemünder Jachthafen. „Dafür können wir uns verbürgen“. Der Norddeutsche hat sich von der Fischbrötchenkultur an der Warnemündung inspirieren lassen und reicht seinen Gästen als Begrüßung Herings-Häppchen auf einem Vollkornbrot zum Winzersekt. „Das Schöne am Essen sind doch die einfachen Dinge, die Emotionen wecken“, erklärt der Koch.
Es sei allerdings schwierig, ein klassisches Fischbrötchen für die gehobene Küche zu adaptieren. Ein knackiges Brötchen und frischer Fisch in einer Miniaturausgabe, da passten die Größenverhältnisse nicht, und deshalb würde auch der Geschmack nicht stimmen. „Der Fisch muss schon als Hauptdarsteller zu erkennen sein“, sagt Münch. Deshalb lässt er bei seinen Kreationen meist den Deckel weg und gibt dafür mehr Hering und mehr Krabben auf Brot und Chips.
„Mehr Krabben“ – beim Blick auf die steigenden Preise dürfte das vielerorts nur noch schwerlich umzusetzen sein. Ein Brötchen mit „Nordseekrabben satt“ kann schon mal 15 Euro kosten, denn auch hier schrumpft das Angebot: Die deutschen Krabbenfischer holen mit 6000 Tonnen pro Saison gerade mal die Hälfte der Ware an Land, die noch vor zehn Jahren üblich war. In Zukunft dürfte die Menge noch weiter zurückgehen. Die EU-Kommission will die Fischerei mit Grundschleppnetzen, die typischen Fangmethode, in Meeresschutzgebieten untersagen.
Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Pierre Nippkow im „Haus am Meer“ in Graal-Müritz mit Krabben lieber sparsam umgeht. Nippkow kochte früher in der „Ostseelounge“ in Dierhagen auf dem Darß und erhielt dafür einen Michelin-Stern. Dann entschied er sich, im Hotel der Eltern einzusteigen und die lokale Traditionsküche in der Herberge mit Ideen aus dem Fine Dining aufzupeppen. In seinen Fischbrötchen liegen mit Miso gebeizter Lachs oder Fjordforelle, Gurkenscheiben, die er in einen Ingwersud eingelegt hat, Zitrusmayonnaise, ein wenig Kaviar und ein paar Nordseekrabben, die mittlerweile fast genauso nobel sind wie der Fischrogen. „Unter neun Euro kann ich das nicht anbieten“, sagt Nippkow, der selbst gern Fischbrötchen isst und die Müritzfischer in Waren empfiehlt. „Die nehmen einfach ein frisches Brötchen, dazu Aal oder Saibling und Preiselbeermeerrettich.“
Auch im „Budersand“ auf Sylt stöhnt Chefkoch Felix Gabel über die „brutalen Einkaufspreise“. An der Bar bleibt dennoch die „Krabbenrolle de luxe“ als Signature Dish auf der Karte. Dafür werden Nordseekrabben in geschlagenem Eigelb und Panko gewendet, ausgebacken und auf ein fluffiges, selbst gebackenes Brioche-Brötchen gelegt. Gabel würzt mit ein paar Spritzern Limettensaft und dem Abrieb der Zitrusfrüchte, Koriandergrün und eingelegtem Ingwer. Seine Barbecue-Bacon-Marmelade sorgt noch dazu für ein rauchiges Grillaroma. Getoppt wird das Ganze mit einer Mayonnaise, der fermentierte Chilisoße Schärfe gibt, einem Wildkräutersalat, Störkaviar und Trüffelpommes. Eine schillernde Schlemmerei am Badestrand – und irgendwie auch typisch Sylt.