Der Ausblick könnte so schön sein. Hinter der Panoramascheibe des Reisebusses erstreckt sich die dänische Landschaft, dahinter der Horizont unter dramatischen Wolkenformationen, durch die Sonnenstrahlen scheinen. Malerisch. Fast. Wäre da nicht dieses Paar Füße am unteren Bildrand. Immerhin stecken sie in Socken, immerhin haben diese keine Löcher, aber der Anblick stört. Zumal die Füße zu Beinen gehören, die so breitbeinig auf der Ablage drapiert sind, als sei das eine Dehnübung. Der eigene fragende Blick trifft auf unbekümmertes Lächeln des Gegenübers, der Fuß- und Beineausstrecker scheint sich keines Problems bewusst. Ratlos schaut man weg. Ins Buch, aufs Smartphone, auf den fußfreien Teil des Panoramas. Es könnte ja schlimmer kommen.
Und das tut es auch, als drei Reihen weiter hinten plötzlich blechern-abgehackte Stimmen ertönen. Es ist der Auftakt zu einem Videotelefonat mit einer ganzen Familie, zu der unüberhörbar auch ein hungriges oder zumindest unzufriedenes Kleinkind gehört. Gleich wird der Mitreisende merken, dass seine Kopfhörer nicht richtig angeschlossen sind, redet man sich selbst gut zu – aber falsch gedacht. Nach unglaublich langen 15 Minuten weiß der halbe Bus alles über diese Familie. Und dann passiert etwas, das einen wirklich glauben lässt, bei einer Reise-Spezial-Ausgabe von „Verstehen Sie Spaß?“ gelandet zu sein: Eine Passagierin öffnet eine Dose Sardinen.
Irgendwo zwischen Staunen und Defätismus fragt man sich: Seit wann verstauen so viele Menschen ihre Rücksicht tief im Koffer und benehmen sich in Bus, Bahn und Flugzeug komplett daneben? Nicht immer kommt die Abwesenheit jeglicher Empathie für Mitreisende so geballt wie in diesem Fernbus daher, aber jeder, der schon mal auf Reisen war, dürfte sie kennen, die Rucksäcke, die einem mit voller Wucht in die Seite oder ins Gesicht gedrückt werden.
Die langen Haare, die über der Rückenlehne des Vordersitzes baumeln, als warte ihre Besitzerin (seltener: ihr Besitzer) darauf, dass man ihr die Fransen kämmt, einen Zopf flicht oder die Spitzen schneidet. Den aromatischen Proviant des Sitznachbarn. Die oft wortlos geführten Kämpfe um die Armlehne. Und immer wieder Füße: mal mit Schuhen, mal in Socken, mal nackt, auf der Armlehne oder dem Sitz gegenüber, die Zehen genüsslich räkelnd.
Sich mit den Mitreisenden verbünden
All das beobachtet auch Linda Kaiser, stellvertretende Vorsitzende der Deutsche-Knigge-Gesellschaft. Besonders schlimm findet sie jedoch Unhöflichkeit von Reisenden gegenüber dem Personal. „Das sorgt bei mir für Fremdscham-Momente. Höflichkeit kostet nichts, das gilt für beide Seiten. Ganz unabhängig davon, ob man First Class oder Holzklasse fliegt oder fährt.“
Dass auf Miteisende oft nur wenig Rücksicht genommen wird, läge auch an der wachsenden Nachlässigkeit der Gesellschaft im Umgang mit anderen und sich selbst. Dagegen helfe, sich von Anfang an mit den Menschen um sich herum zu verbünden: „Ich empfehle, seine Sitznachbarn zu begrüßen, ihnen vielleicht eine schöne Reise zu wünschen. Das schafft Aufmerksamkeit füreinander und kann helfen, falls es auf der Armlehne zu eng oder ein Telefonat zu laut wird.“ Von Eskalation rät Kaiser ab. Man wisse ja nie, wie der Mensch gegenüber reagiere. Zu Beginn eines Acht-Stunden-Fluges einen Streit vom Zaun zu brechen, erscheint tatsächlich wenig diplomatisch. „Man darf nicht vergessen, dass Menschen auf Reisen meist unter Druck stehen. Weil sie nervös sind, weil das Miteinander auf engem Raum ungewohnt ist, weil sie vielleicht Zeitdruck haben. Das ist eine Stresssituation, die Fingerspitzengefühls bedarf.“
Aber was, wenn sich eine Konfrontation nicht vermeiden lässt? Wenn man etwa seine Sitznachbarn zu Beginn der Reise gar nicht erst begrüßen kann, weil der eigene – reservierte – Platz besetzt ist und sich das Gegenüber stoisch weigert, diesen zu verlassen? „Holen Sie das Personal zu Hilfe“, rät Kaiser. „Oft verhilft allein schon die Autorität der Uniform zu einer schnellen Lösung des Problems – in diesem Fall zu einem freien Platz “, so ihre eigene Erfahrung.
Gerade in Flugzeugen und in Reisebussen ist das Personal dank kurzer Wege auch meist schnell greifbar. Sollte es im Zug etwas länger dauern, bis sich Kontrolleure blicken lassen, hilft wieder die von Kaiser viel beschworene Gelassenheit. Wer jemals in einem überfüllten ICE um seinen Platz kämpfen musste, weiß: Ausflippen bringt hier gar nichts. Sich mit einem Lächeln im Gesicht Verbündete zu suchen, vielleicht auch nur für die Wartezeit bis zum Eintreffen des Personals, kann hingegen zu ganz ungeahnten Freundschaften mit neuen Sitznachbarn führen.
Die Grenzen der Geduld und des Verständnisses seien dort erreicht, wo Verletzungsgefahr herrsche, so die Knigge-Expertin. Etwa durch riesige Rucksäcke, die ohne Rücksicht auf Mitreisende fest auf dem Rücken geschnallt bleiben, egal wie eng es in Zug, Bahn oder Bus auch ist. „Einen Rucksack nimmt man ab und in die Hand“, sagt Kaiser mit Nachdruck. In Taiwan sind sogar in der Metro auf Postern entsprechende Hinweise angebracht; japanische Zugunternehmen haben mit ihren Etikette-an-Bord-Postern (in denen es nicht nur um Rucksäcke, sondern unter anderem auch um das Manspreading geht, also breitbeiniges Sitzen) fast schon eine eigene Kunstgattung hervorgebracht.
Einmal ist keinmal, dreimal ist unachtsam
Auch die Grenzen der eigenen Distanzzone, des persönlichen Raumes sollten gewahrt werden: „Man kann einschreiten, wenn jemand die Füße vor dem eigenen Gesicht hochlegt, die Armlehne für sich beansprucht oder die Haare über die Rückenlehne wirft.“ Dabei sollte so freundlich und unaufgeregt wie möglich kommuniziert – und das Gesetz der Häufigkeit nicht vergessen werden: „Es kann passieren, dass sich jemand im Flieger festhalten muss und dabei aus Versehen auf den Bildschirm meines Vordersitzes fasst. Nach dem dritten Mal aber kann ich davon ausgehen, dass diese Person einfach unaufmerksam ist.“ Hilfreich seien dann Ich-Botschaften à la „Mir ist aufgefallen, dass Sie zum dritten Mal auf meinen Bildschirm fassen, das ist wirklich unglücklich.“ Wieder gelte: Höflich bleiben und damit selbst ein Vorbild sein. Im besten Falle folge dann eine Entschuldigung – und keine weitere Wiederholung.
Doch nicht jede Grenze ist greifbar. Die Luft in Flugzeug, Bahn und Bus teilen sich alle Passagiere. Und hat nur einer von ihnen Lust auf intensive Aromen von Harzer Käse, Döner oder eben Sardinen, gibt es für die anderen kein Entrinnen. Kaiser erstaunt nicht nur, was Reisende mit an Bord bringen, sondern auch, was dort angeboten wird: „In der ersten Klasse im ICE wird Currywurst am Platz serviert. Wer hat sich das nur ausgedacht? Ich esse auch gerne Currywurst, aber doch nicht im geschlossenen Abteil, bei dem sich keine Fenster öffnen lassen.“
Zu protestieren, wenn Döner oder Mettbrötchen bereits ausgepackt sind, lohne aber kaum: „Der Duft ist dann ja schon in der Luft, da soll er oder sie lieber schnell aufessen.“ Sie plädiert für mehr Mitdenken: „Es gibt auch Proviant, der nicht durch starke Gerüche auffällt.“ Und nicht jedem kulinarischen Begehr muss man sich ausgerechnet im vollbesetzten Abteil hingeben.
Auch Geräusche überwinden Sitzplatz-Grenzen mühelos. Dass Kopfhörer nicht nur auf Reisen, sondern grundsätzlich aus der Mode gekommen zu sein scheinen, beschäftigte gerade erst auch die „New York Times“. Gründe dafür seien, dass viele Smartphones keine Anschlüsse für Kopfhörer mehr hätten, Menschen ihre Bluetooth-Hörer vergessen oder verlieren, aber auch ein anderes Empfinden der persönlichen Freiheit im öffentlichen Raum herrsche.
Seit Corona ist laut Jay Van Bavel, Psychologie-Professor an der New York University, eine „Normen-Erosion“ zu beobachten. Aber auch vor der Pandemie wurden in ICEs und Fliegern mitunter hemmungslos Firmeninterna mit allen Anwesenden geteilt. „Züge und Flugzeuge sind keine Orte, an denen man genauso wie im Büro agieren sollte, sondern in erster Linie Transportmittel, die man mit anderen Menschen teilt“, betont Kaiser.
Sendungsbewusstsein statt Kopfhörer
Während man allzu sendungsbewusste Geschäftsleute oft mit Humor auf Indiskretionen hinweisen kann, verstehen gestresste Eltern auf Reisen oft weniger Spaß. Was also tun, wenn nervtötende Cartoons und Videospiele zwar den Nachwuchs ruhig stellen, dafür aber den ganzen Waggon beschallen? Ruhe bewahren, rät Kaiser, und den eigenen Wunsch (den vermutlich alle Mitreisenden teilen) am besten als Frage formulieren: „Haben Sie vielleicht auch Kopfhörer dabei?“
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Bei sensiblen Personen könne sogar Blickkontakt helfen. Der könnte bei größeren Gruppen, die aktuell zu EM-Spielen unterwegs sind, jedoch auch falsch verstanden werden. Wieder rät die Knigge-Expertin zur Ruhe: „Nehmen Sie es mit so viel Humor und Gelassenheit wie möglich. Wer weiß, vielleicht bekommen Sie ja ein Getränk ab.“ Spätestens in ausgewiesenen Ruheabteilen aber darf man besten Gewissens seine Mitreisenden darauf hinweisen, wo sie sich befinden. Und wenn sie ironischerweise nicht hören wollen, wieder das Personal um Unterstützung bitten.
Bleibt die Frage nach der Königsdisziplin des guten – oder schlechten – Benehmens auf Reisen: den Umgang mit Füßen. Kaiser rät zu einer guten Vorbereitung: Wer auf langen Flügen, Zug- oder Busfahrten unbedingt seine Schuhe ausziehen wolle, sollte einerseits einen Beutel für seine getragenen (oft „duftenden“) Schuhe und andererseits Pantoffeln oder wenigstens Haussocken für die Dauer der Reise dabeihaben: „Den Anblick fremder Füße findet kaum jemand schön.“ Und genau deshalb sollten sie, auch derart verpackt, aus Sichtweite der Mitreisenden bleiben – und schon gar nicht in die Quere eines beeindruckenden Panoramas kommen.