Der Satz kommt so unvermittelt, als wäre Sina (Name geändert) gerade ein Licht aufgegangen. Als hätte die Fünfjährige nur darauf gewartet, endlich die richtigen Bilder und Worte für das zu finden, was irgendwie schief läuft mit ihr und den Anderen. „Ich bin meistens wie die Elster“, sagt sie.
Es klingt weder keck noch wie ein Schuldeingeständnis. Es klingt hilflos. Die Elster. In der Geschichte, die Marina Nehls an diesem Montagmorgen den Vorschülern der Kita Einstein in der Neubrandenburger Oststadt vorliest, ist das Tier ein fieser Vogel.
Sie ärgert den Bären wegen seiner roten Nase und das Eichhörnchen, weil es pummelig ist. Und dann versucht sie auch noch, die anderen Tiere dazu zu bringen, „Himbärchen“ und „Eichtönnchen“ auszuschließen. Am Schluss bleibt die Elster selbst die Außenseiterin. Denn, so die Moral von der Geschichte: Wer andere auslacht, spielt meist allein.
„Die Elster ist doch ganz schön gemein“, sagt Frau Nehls zu Sina. „Bist Du das auch?“
„Manchmal. Auch zu meiner Schwester.“
„Weißt Du was?“, sagt Frau Nehls mit warmer Stimme: „Die Elster kann dazulernen. So wie Du.“ Sina nickt. Es sieht aus wie ein Versprechen.
Marina Nehls ist Lesepatin. Bis zu ihrer Pensionierung hat die 66-Jährige am Sportgymnasium Neubrandenburg Deutsch und Geschichte unterrichtet. Seit einem Jahr kommt sie jeden Montag in die Integrative Kindertagesstätte.
Dann wird der Gruppenraum des schlichten 70er-Jahre-Baus inmitten der Plattenbausiedlung das Tor zu einer weiten Welt: Zur Welt der Buchstaben und all der Geschichten, die aus ihnen entstehen. Die zum Staunen bringen, zum Lernen und zum Lachen. Und manchmal eben auch zu einer schmerzhaften Selbsterkenntnis.
Zu Hause geschieht das immer seltener. Weil sich viele Kinder mit Trickfilmfiguren wie „Sponge Bob“ weitaus besser auskennen als mit dem „Struwwelpeter“, weil der künstliche Kosmos der Computerspiele ihnen geläufiger ist als der Bauernhof von Michel aus Lönneberga, starteten die Erzieher im vergangenen Jahr eine besondere Aktion.
Die Eltern sollten jeweils ein Buch kaufen, damit ihr Kind es an ein anderes verschenkt. Der Erfolg war durchschlagend, die Begeisterung groß. „Für die Kinder war das so etwas Besonderes“, sagt Marina Nehls, „dass sie gar nicht aufhören konnten, mir davon zu erzählen. Für manche schien es das erste eigene Buch gewesen zu sein.“
Dass die gemeinsamen Momente seltener werden, in denen Eltern mit ihren Kindern ein Buch anschauen oder daraus vorlesen, offenbart der „Vorlesemonitor“, eine regelmäßige Umfrage der Stiftung Lesen. Nach jüngstem Stand wird jedem fünften Kind in Deutschland zwischen einem und acht Jahren nie vorgelesen. Ihr Anteil hat sich seit 2019 mehr als verdoppelt.
Die Söhne und Töchter von Eltern mit formal geringer Bildung sind besonders häufig von einem Leben ohne Gutenachtgeschichte betroffen. Die Folgen sind fatal. Kindern, die kaum oder nie in den Genuss des Vorlesens kommen, fällt es nachweislich schwerer, Lesen zu lernen.
„Alle Kinder sind für Geschichten zu begeistern“, sagt Marina Nehls. „Wir müssen sie nur abholen.“ Wie jeden Montag liest sie neben den Vorschülern auch den Drei- bis Vierjährigen vor. Die sitzen schon auf ihren Stühlchen. „Elmar! Elmar!“ rufen sie im Chor.
Sie können es kaum erwarten, dass Frau Nehls ihnen erzählt, wie es mit dem Elefanten Elmar weitergeht, der anders als der Rest der Herde bunt kariert ist. Und während sie erzählt, wie sein Anderssein zum Vorteil wird, fragt sie die Farben ab.
Marina Nehls gehört zum Lesepaten-Netzwerk des Projektes „Ein Quadratkilometer Bildung“, das für ein Stück mehr Bildungsgerechtigkeit im Quartier sorgen will. „Mittlerweile haben wir 28 Ehrenamtliche“, sagt Leiter Thomas Evers. „80 Prozent sind Rentnerinnen und Rentner.“
Im vergangenen Jahr haben sie 700 Stunden geleistet. In Vierteln wie der Neubrandenburger Oststadt, in der überdurchschnittlich viele Familien auf staatliche Unterstützung angewiesen sind und Bildung nicht an erster Stelle steht, ist das von unschätzbarem Wert.
Ehrenamtliche Lesepaten sind in ganz Deutschland im Einsatz. Sie gleichen aus, was Eltern nicht mehr leisten. Und sie füllen die Lücken, die der allgemeine Lehrermangel hinterlässt. Bundesweit sind knapp 14.500 Vollzeitstellen an Schulen unbesetzt. Die Bildungsmisere lässt sich nicht wegdiskutieren.
Laut der 2023 veröffentlichten „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) erreicht ein Viertel der Kinder nicht den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen, der für das weitere erfolgreiche Lernen nötig wäre.
Dieter Langschwager, 70, seit acht Jahren als ehrenamtlicher Lesepate an Schulen im Einsatz, hat manchmal das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen. Die Aussicht, dass sich in den kommenden Jahren die Versorgung mit qualifizierten Lehrern nicht verbessern wird, sei frustrierend.
Laut Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK) fehlen bis 2035 rund 68.000 Lehrkräfte. „Manchmal kommt mir meine Arbeit wie ein Tropfen auf dem heißen Stein vor“, sagt er. „Dann sehe ich aber wieder, wie wichtig die Lesepaten sind.“ Schließlich zähle doch jeder kleine Fortschritt.
Langschwager ist Lesehelfer, zurzeit in der Grundschule Ost. Zweimal in der Woche kommt er für drei Stunden zum Deutschunterricht. Während die Lehrerin mit der Klasse arbeitet, geht er mit drei Schülern aus dem Klassenraum, um sie individuell zu betreuen.
Der beschauliche Rahmen sei wichtig für diese Kinder. Denn beim Lesenlernen sei nicht nur das Zusammenziehen der Silben ein Problem. „Viele Kinder trauen sich nicht, laut vorzulesen, weil sie Angst haben, gehänselt zu werden. In der kleinen Gruppe falle ihnen das natürlich leichter.“
Wenn Dieter Langschwager von seiner Tätigkeit berichtet, dann hört man schnell, dass er mehr ist als ein Nachhilfelehrer. Er ist auch ein Mentor, der seinen Zöglingen Struktur gibt, Abmachungen mit ihnen trifft, von denen er ausdrücklich verlangt, dass sie sich daran halten. So wie er es selbst auch tue.
Er will, dass sie sich als Persönlichkeit ernst genommen fühlen. Der ehemalige NVA-Offizier spricht von Disziplin. „In der DDR-Pädagogik gab es einen Grundsatz: Ich fordere Dich, weil ich Dich achte! Der gilt auch für mich“, sagt er. Manchmal gebe es auch schon mal eine klare Ansage: Wenn Du so weiter machst, höre ich auf! Bisher seien sie sich aber immer einig geworden.
Und sein Erfolg gebe ihm recht. Die Klassenlehrerin bestätige, dass sich die Schüler verbessern. Kürzlich hat einer für ein Referat eine Zwei bekommen. „Das macht mich natürlich auch froh“, sagt er. „Das größte Dankeschön ist das Leuchten in den Augen, wenn es vorangeht.“
Mindestens 30 Prozent der Schüler, so Langschwager, falle es schwer, zu lesen. Mangelnde Unterstützung der Eltern sei nur ein Grund dafür. „Die Lehrer stehen vor enormen Herausforderungen“, sagt er. In beinahe jeder Klasse seien Kinder mit der Aufmerksamkeit- und Hyperaktivitätsstörung ADHS. Dazu kommen die Schüler mit unterschiedlichen Migrationshintergründen.
In der Klasse, die er betreut, sind Kurden, Afghanen, Syrer und Schüler, deren Eltern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken stammen. Er unterstütze die Lehrerin bei der Betreuung neuer Migrantenkinder, indem er im Einzelgespräch erst mal den sprachlichen Level prüft.
Und dann erzählt er von dem syrischen Jungen, mit dem er während der Pandemie online Leseübungen gemacht habe. Langschwager hatte ihm kurz vor den Sommerferien angeboten, auch in der schulfreien Zeit mit ihm zu arbeiten. „Der Junge hat das gleich angenommen und die ganzen Ferien über durchgezogen, zweimal die Woche.“
Abends in der Kneipe seien die Vorbehalte gegen Migranten häufiges Thema. „Ich frage dann: ,Wen kennst du eigentlich von den Flüchtlingen? Die Eltern, mit denen ich zu tun habe, sind sehr hinterher, dass ihre Kinder Deutsch lernen.‘“
Dass viele, die in der Schule auf der Strecke bleiben, durchaus lernen wollen, erfährt auch Sigrid Drescher, 74. Die ehemalige Oberstufenlehrerin und Sonderpädagogin mit Zusatzausbildung zur Lerntherapeutin unterstützt eine Fünftklässlerin und einen Fünftklässler, deren Muttersprache Deutsch ist.
„Als ich anfing, mit dem Jungen zu arbeiten, kannte er nicht einmal alle Buchstaben.“ Sie übten, mit der Hand zu schreiben. Sie muss lächeln, wenn sie von dem ersten Erfolgserlebnis spricht. Das war, als sein Mathelehrer ihm sagte, er könne jetzt seine Handschrift lesen.
Ein Rätsel, wie der Schüler all die Jahre durch die Schule kommen konnte. Mittlerweile habe er deutliche Fortschritte gemacht. „Seit er merkt, was in ihm steckt, fragt er manchmal: ,Warum hat man mir das nicht früher erklärt?‘“ Auch die Schülerin komme voran.
„Meine Arbeit zeigt mir, wie wichtig die Lesepaten für die sind, die in den Schulen nicht die Betreuung bekommen, die sie bräuchten“, sagt Sigrid Drescher. „Wenn jeder Rentner, der gerne mit Kindern arbeitet, einmal wöchentlich mit einem Kind liest, wäre viel getan.“
Sigrid Drescher strahlt. Und eines müsse sie noch loswerden, sagt sie. Beide Schüler haben ihr gerade mitgeteilt, dass sie ihr Angebot annehmen wollen, in den Sommerferien mit ihr zu lernen. Verreisen stehe für die beiden ohnehin nicht auf dem Programm.