Der Auftrag hatte es in sich. Weil die altehrwürdige London Bridge den Verkehr über die Themse nicht mehr bewältigen konnte – London wuchs gerade zur größten Stadt der Welt – , wurde 1870 ein Wettbewerb für einen Brückenneubau im East End ausgeschrieben. Das Knifflige daran war, dass viele Hafenanlagen und Speicher, der sogenannte Pool of London, flussaufwärts lagen, sodass die Konstruktion die Durchfahrt großer Schiffe mit hohen Masten ermöglichen musste. Außerdem sollte sie sich in das Stadtbild mit der nahen Tower-Festung einfügen.
Es dauerte bis 1884, bis sich das Special Bridge or Subway Committee auf einen Entwurf einigen konnte. Dass mit Horace Jones ausgerechnet der Stadtbaumeister der City of London und damit ein Mitglied der Jury den Zuschlag erhielt, sorgte für ein gewisses Geschmäckle. Aber die Kombination aus Hänge- und Klappbrücke, die nach dem Tod von Jones von seinem Oberingenieur John Wolfe Barry innerhalb von acht Jahren fertiggestellt wurde, überzeugte schließlich das Publikum. Bei ihrer offiziellen Eröffnung am 30. Juni 1894 galt die Tower Bridge als Meisterwerk innovativer Ingenieurkunst und Symbol britischer Weltmacht.
Schon die Dimensionen beeindrucken noch heute. Die Länge beträgt 244, die Breite 76 und die beiden Türme messen 65 Meter. Die Fahrbahn liegt neun Meter über der Themse. Für die riesigen Pfeiler wurden 70.000 Tonnen Beton im Flussbett versenkt. Die Herstellung des Brückengerüsts erforderte 11.000 Tonnen Stahl, der mit Granit aus Cornwall und Portland-Stein im neugotischen Stil verkleidet wurde. Um Fußgängern eine Querung des Flusses auch während der Öffnung der beiden beweglichen Teile in der Mitte zu ermöglichen, überspannen zwei Stege in 43 Meter Höhe die Konstruktion. 432 Arbeiter von fünf Bauunternehmen trieben den Bau voran.
Doch das eigentliche Wunderwerk war im Inneren verborgen. Zwei Kolbendampfmaschinen mit 360 PS betrieben das hydraulische System, das die Brücke binnen zwei Minuten vollständig hochklappen konnte. Da nur wenige Schiffsriesen dies erforderlich machten, behinderten der Verkehr auf Straße und Fluss einander nur mäßig. Seit 1974 wird der Mechanismus elektrisch betrieben, und die hydraulischen Elemente sind mit Öl statt mit Wasser befüllt.
Zehn Tage nach der feierlichen Eröffnung durch Queen Victorias Sohn und Kronprinz Eduard (der spätere Eduard VII.) und seiner Ehefrau Alexandra von Dänemark wurde die Tower Bridge für den Verkehr freigegeben. Bereits in den ersten Stunden stürmten 140.000 Menschen die Brücke, die bald zu einem Wahrzeichen der Metropole avancierte. Heute werden pro Jahr 500.000 Besucher gezählt, die die Fußgängerstege (deren Böden seit 2014 aus Glas bestehen) nutzen und die Ausstellungen der City Bridge Foundation besuchen.
Die kurzen Stopps, die das häufige Hochziehen der Brücke erzwang, förderten allerdings auch ein Gewerbe, das im Londoner Osten seit jeher Konjunktur hatte: Taschendiebstahl und Prostitution. Vor allem in den Zugängen zu den beiden Fußgängerstegen der Tower Bridge und den Wegen selbst boten Sexarbeiterinnen ihre Dienste an.
Denn weil Öffnen und Schließen der Brücke nur kurze Zeit erforderte, verzichteten die meisten Passanten auf den mühsamen Aufstieg, sodass sich einigermaßen ungestörte Möglichkeiten zur schnellen Lustbefriedigung eröffneten. Um das unmoralische Treiben zu stoppen, wurden die Fußwege daher 1910 bis 1982 geschlossen. Seitdem sind sie Teile der Dauerausstellung „The Tower Bridge Experience“.
Auch ein anderes Phänomen warf Schatten auf das technische Wunderwerk. An der Nordseite der Brücke bildeten die Fundamente nämlich eine Ecke, die als „Dead Man’s Hole“ für traurige Berühmtheit sorgte. Denn hier schwemmte die Themse zahllose Tote an, die als Opfer von Verbrechen, Unfällen oder Selbstmord das Leben verloren hatten. Ebbe und Flut sorgten dafür, dass die Körper der Unglücklichen ausgerechnet an dieser Stelle antrieben.
N24 Doku – Der Sender für Dokumentationen und Reportagen
Von Geschichte, Natur und Wissenschaft bis hin zu Technik, Gesellschaft und Kultur bietet N24 Doku den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Vielfalt an tiefgründigen und fesselnden Programmen.
Quelle: N24 Doku
Um sie einigermaßen sicher bergen zu können, wurden Stufen angelegt, von denen aus die Toten mit einem Stock an Land gezogen wurden. Dort wurden sie im „Dead Man’s Hole“ ausgestellt, um von Angehörigen oder Zeugen identifiziert zu werden. Da die Gase im Inneren manchmal die unangenehme Angewohnheit hatten, die Wasserleichen zur Explosion zu bringen, wurde die Nische mit weißen Kacheln verkleidet, um eine leichte Säuberung zu ermöglichen.
Wiederholt bewiesen Piloten ihren Mut, indem sie ihre Fluggeräte zwischen geschlossener Brücke und Fußgängerstege steuerten. Auch der Busfahrer Albert Gunton schrieb sich in die Annalen der Furchtlosen ein. Als er nämlich am 30. Dezember 1952 mit seinem Doppeldecker mit der Nummer 78 auf die Brücke zufuhr, musste er erkennen, dass diese sich bereits hob. Denn das übliche Warnsignal war nicht ausgelöst worden.
Also gab Gunton Gas und konnte glücklich über den klaffenden Abgrund springen. Er sei im Zweiten Weltkrieg Panzerfahrer gewesen, erklärte er den verschreckten Passagieren anschließend seine Reaktion. Und da ein Panzer keine Probleme mit dem Manöver gehabt hätte, war er der Meinung, dass ein Doppeldecker das auch können sollte.
US-Präsident Bill Clinton blieb 1997 eine solche Mutprobe erspart. Weil das Hochziehen der Tower Bridge in seinem Besuchsprogramm nicht vorgesehen war, musste die Wagenkolonne des hohen Gastes einen Stopp einlegen.