Öffentlich wurde die Katastrophe am Mittwoch, dem 26. Juni 1974, genau um 15.34 Uhr. Zu dieser Zeit meldete die Finanznachrichten-Agentur Vereinigte Wirtschaftsdienste per Ticker an alle Abonnenten: „Das Bundesaufsichtsamt hat dem Bankhaus Herstatt die Fortführung des Bankgeschäfts entzogen und die Abwicklung angeordnet.“
So etwas hatte es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Doch das Land war im Fußballrausch; die Meldung ging kurz vor dem Anpfiff des WM-Vorrundenspiels Deutschland gegen Jugoslawien über die Fernschreiber. So machte die Tagesschau um 20 Uhr mit dem 2:0-Sieg der Nationalmannschaft auf; es folgte ein Vorbericht zur Reise von US-Präsident Richard M. Nixon nach Moskau. Erst dann kam die Nachricht über das Ende der Kölner Privatbank.
Die meisten deutschen Zeitungen brachten am 27. Juni größere oder kleinere Meldungen auf ihren Titelseiten – nur im Rheinland war das Thema naturgemäß ein Aufreger. Denn die meisten der knapp 38.000 Kunden von Herstatt lebten zwischen Düsseldorf und Bonn. So kam es am Donnerstagmorgen zu einem „Bankrun“ auf die Zentrale des Geldinstituts, ein modernes, eindrucksvolles Bürogebäude an der Topadresse Unter Sachsenhausen 6.
Empörte Anleger verlangten ihre Einlagen zurück, doch die Herstatt-Mitarbeiter durften die Schalter nicht öffnen und erst recht nichts auszahlen. Aufnahmen der belagerten Bankzentrale machte Jochen Dziedzic, Fotograf und Bildredakteur in der Lokalredaktion der „Kölnische Rundschau“, deren Büros vis-à-vis auf der anderen Seite der Tunisstraße lagen. Seine Bilder zählen wie zehntausende weitere zum Digitalarchiv der Irene-und-Sigurd-Greven-Stiftung in Köln, die seit 2018 Bildbestände aus dem Rheinland sammelt, elektronisch aufbereitet und im Internet für lokal- wie kulturhistorische Recherchen zur Verfügung stellt.
Erst nach mehreren jahrelangen Prozessen gegen den Namensgeber der Bank Iwan D. Herstatt und eine Reihe von Direktoren stand 1984 fest, was geschehen war – jedenfalls im juristischen Sinne. Demnach (und so berichtete selbstverständlich auch WELT) war der Hauptverantwortliche für den Bankrott der Chefdevisenhändler der Herstatt-Bank Dany Dattel; er sollte mit seinen gierigen Untergebenen auf eigene Faust mit Termingeschäften auf den Kurs des Dollars spekuliert und so Verluste in Höhe von mehr als einer halben Milliarde Mark verursacht haben.
Ein Urteil gegen Dattel gab es jedoch nicht, denn er war von gleich mehreren Gutachtern für verhandlungsunfähig erklärt worden. Der Grund: Als kleines Kind, im Alter von knapp vier bis fünfeinhalb Jahren, war er seit 1943 mit seiner Mutter im KZ Auschwitz I eingesperrt gewesen; sein Vater wurde dort ermordet. Dany und die Mutter überlebten mit viel Glück den Todesmarsch Anfang 1945. Doch als er 1976 mehrere Monate wegen der Herstatt-Pleite in Untersuchungshaft saß, brachen die frühkindlichen Traumata wieder auf; dafür bürgerte sich der Begriff KZ-Syndrom ein.
Verhandlungsfähigkeit bedeutet, dass ein Beschuldigter dem Verfahren gegen sich folgen, seine Interessen vernünftig wahrnehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise führen, Prozesserklärungen abgeben oder entgegennehmen kann. Das war bei Dany Dattel objektiv nicht der Fall, weshalb die Anklage gegen ihn richtigerweise fallen gelassen wurde.
Allerdings konnten damit die anderen Beschuldigten ihre Verantwortung auf ihn abschieben. Möglicherweise geschah das sogar geplant. Jedenfalls erinnerte sich Dattel in dem ARTE-Film „Verfolgt - Das Maskottchen von Auschwitz“, der kurz vor dem 50. Jahrestag der Pleite in die Mediathek des deutsch-französischen Kultursenders eingestellt wurde, an ein Gespräch mit Iwan Herstatt: „Nehmen Sie das doch auf sich, Ihnen kann nichts passieren – Sie waren ja in Auschwitz“, habe ihn sein ehemaliger Chef aufgefordert. Ein ungeheurer Satz, wenn er denn so gefallen ist; Herstatt selbst bestritt stets, diese oder ähnliche Worte gesagt zu haben.
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Kurz nach dem Ende der Dreharbeiten für den ARTE-Film ist Dany Dattel am 13. Februar 2023 im Alter von fast 84 Jahren gestorben. Auch Iwan Herstatt und die anderen Beteiligten sind längst tot. Vielleicht ergibt sich nun die Gelegenheit, den Fall Herstatt aufzuarbeiten. Bis auf wenige Medien-Beiträge, etwa ein „Monitor“-Interview aus dem Sommer 1974 und ein Porträt in dem deutschen „Playboy“-Imitat „Er“ wenige Monate später, hatte sich Dattel kaum zu den Vorwürfen geäußert.
Der Grund war der massive Judenhass, der ihm seit der Pleite entgegenschlug. Nur gut drei Jahrzehnte waren seit der Befreiung von Auschwitz vergangen, und die alten antisemitischen Stereotypen etwa gegen „Finanzjuden“ waren bei vielen Menschen nur notdürftig kaschiert. Derlei gab es übrigens auch noch Jahrzehnte später: Am 17. Mai 2010 beschrieb ein Artikel der „Süddeutschen Zeitung“, die auch wiederholt antisemitische Karikaturen publizierte, Dattel als den „Mann mit der wuchtigen Nase“ – ein typisches judenfeindliches Klischee.
Nach seinem Tod aber sind seine Aussagen im ARTE-Film verfügbar, und es soll sogar bislang unveröffentlichte autobiografische Aufzeichnungen geben. Ferner existieren zahlreiche einschlägige Unterlagen, vor allem bei der verdienstvollen Stiftung Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv in Köln. Dort werden nicht nur die Akten der geschlossenen Herstatt-Bank selbst verwahrt, die allerdings bisher noch unerschlossen sind, sondern auch einschlägiges Material aus den Beständen der Privatbank Sal. Oppenheim, des Otto-Wolff-Konzerns und weiterer privatwirtschaftlicher Unternehmen.
Damit steht ein halbes Jahrhundert nach dem Bankrott hinreichend Material zur Verfügung, um den Fall Herstatt endlich seriös zu untersuchen – und zu rekonstruieren, was tatsächlich vor und nach dem 26. Juni 1974 geschehen ist. Die antisemitischen Attacken auf den Auschwitz-Überlebenden Dany Dattel bedürfen einer solchen Aufarbeitung. Auch wenn sie erst posthum erfolgen kann.