Seit dem Frühsommer 1974 amtierte Helmut Schmidt als Bundeskanzler. In den acht Jahren seiner Regierung schwankte seine Beliebtheit, doch nach Ende der Amtszeit am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Schmidt in Umfragen immer beliebter. Heute gibt es keinen anderen ehemaligen Kanzler, der öfter zurückgewünscht wird.
Der Historiker Helmut Stubbe da Luz lehrt an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg und betrachtet den 2015 kurz vor seinem 97. Geburtstag verstorbenen Sozialdemokraten mit kritischer Sympathie. Zusammen mit WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff hat er gerade den Sammelband „Vorbild Helmut Schmidt? Politische Führung in Krisen und Katastrophen“ (Mittler-Verlag. 300 S., 24,95 Euro) herausgegeben.
WELT: In neuerer Zeit scheinen sich die „Helmut-Schmidt-Momente“ zu häufen, also Situationen, in denen man sich einen „Macher“ wie den fünften Bundeskanzler zurückwünscht. Trifft dieser Eindruck zu?
Helmut Stubbe da Luz: Tatsächlich, das ergibt sich aus einer kontinuierlichen Beobachtung der Medienlandschaft seit Beginn der Corona-Pandemie 2020: Wer wird der neue Helmut Schmidt? Wo steckt eigentlich Helmut Schmidt? Was würde Helmut Schmidt jetzt tun? Solche Titelzeilen richteten sich meist an Angela Merkel oder ihren Gesundheitsminister. 2021 folgte das Ahrtal-Hochwasser; der Obmann des hernach eingesetzten Untersuchungsausschusses im Mainzer Landtag kommentierte 2022 einmal: „Wir hatten keinen Helmut Schmidt“. Gemeint war der Hamburger Sturmflut-Schmidt von 1962.
WELT: Der Bundeskanzler hieß 2022 dann schon Olaf Scholz.
Stubbe da Luz: Wenn Olaf Scholz mal ungewohnt energisch wirkt, dann kann es passieren, dass ihm von mancher Seite lobend bescheinigt wird, einen „Helmut-Schmidt-Moment“ genutzt oder gehabt zu haben. Das war so bei der Verkündung der Zeitenwende, zumindest einmal auch bei der Bekräftigung der deutschen Unterstützung für die Ukraine. Häufiger wird allerdings wohl bedauert, Scholz habe einen weiteren Helmut-Schmidt-Moment gerade verpasst.
WELT: Als beispielhaft an Schmidt gelten vor allem zwei Situationen – neben der Sturmflut in Hamburg 1962, als er Innensenator war, der „Deutsche Herbst“ 1977, als die RAF den Rechtsstaat fundamental herausforderte. Als wie beispielhaft erscheint Ihnen als Historiker Schmidts Vorgehen?
Stubbe da Luz: Schmidts Nimbus als Sturmflut-Retter beruht auf Übertreibungen und Erfindungen, die Schmidt selbst und zahlreiche Journalisten hernach in die Welt setzten und die noch immer verbreitet werden. Hauptsächlich, Schmidt hätte sich sogar über das Grundgesetz hinweggesetzt – „beherzt“. Tollkühn geradezu war Schmidts Entscheidung von 1977, den entführten Lufthansa-Jet in Mogadischu stürmen zu lassen; er setzte 90 Menschenleben aufs Spiel und besiegelte den Tod des zuvor entführten Hanns Martin Schleyer. Eine Methode kann daraus schlecht abgeleitet werden, Vorbildhaftigkeit scheidet aus.
WELT: Wie kommt es trotzdem zu dieser fast metaphysischen Überhöhung Schmidts?
Stubbe da Luz: Weil die Mythen immer erneut erzählt werden. Sie bleiben meist unüberprüft, sie ergötzen die Erzähler und das Publikum. Manche Menschen verspüren Identifikation mit dem Helden, mit manchen filmreif einsamen und kühnen Entscheidungen, wie bei einem Agenten oder Cowboy. Für Mogadischu hat Schmidt wiederholt für sich beansprucht, er sei in eine unauflösbare Tragik verwickelt gewesen, wie im antiken Drama die Antigone. Manche Menschen hoffen wohl, die Kraftakte des Giganten seien wiederholbar, Schmidt könne Wiederauferstehung feiern oder sein „Geist“ in geeignete Nachfolger schlüpfen.
WELT: Oft hieß es schon zum Ende seiner Amtszeit und noch öfter danach, Schmidt sei der richtige Mann in der falschen Partei gewesen. Was stimmt daran – und was nicht?
Stubbe da Luz: Das ist ein Bonmot aus dem bürgerlichen Lager, ganz witzig. Mal wird eher die Richtigkeit des Manns betont, mal die Falschheit der Partei. Unter ausgewählten Gesichtspunkten konnte Bundeskanzler Schmidt der SPD geneidet werden. Ich persönlich habe mich vor Jahrzehnten mal in der CDU engagiert und erinnere mich, dass ich – wie wohl auch einige Parteifreunde – 1980 nicht die Union, sondern die SPD gewählt habe, also nicht Franz-Josef Strauß, sondern Schmidt. Ich mochte seine Arroganz nicht, aber von Strauß‘ Auftreten fühlte ich mich damals eher abgestoßen.
WELT: Da hätten Sie sich Schmidt in der Union vorstellen können, aber waren zugleich bereit, bei Ihrer Wahl die SPD in Kauf zu nehmen?
Stubbe da Luz: Exakt, es ging um den Mann. Ebenso gut lässt sich die Partei hervorheben: Schmidt sei von einer „falschen“ SPD umringt gewesen, insbesondere am Ende seiner Amtszeit, 1982. Eine solche „Falschheit“ der SPD wird manchmal auch aktuell wieder behauptet: Aus den populistischen Parteien ist ab und an zu hören, genau sie böten heute die Vorzüge, die die SPD zu Schmidts oder auch Willy Brandts besten Zeiten gehabt, aber nun schon längst verloren hätte. Es ist dort sogar schon der Anspruch erhoben worden, Helmut Schmidt würde heute AfD wählen.
WELT: Schmidt machte sich wiederholt Gedanken um „politische Führung“ in der Demokratie. Was kann man darunter verstehen?
Stubbe da Luz: Schmidt hegte einen naheliegenden Verdacht: Nehme die Zahl der Parteien zu, drohe also eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, dann liege dies vor allem auch an einem Mangel an Führung. Die großen Parteien müssten dem Gemeinwohl deshalb mit autoritativen, integrationsfähigen Anführern dienen. Die These beleuchtet nur einen Teil der Realität, lohnt aber eine Verallgemeinerung: Die freiheitlich-demokratische Vielfalt, der Pluralismus, muss von einem Grundkonsens großer Mehrheiten zusammengehalten werden, aber auch von Regierungschefs, denen diese Mehrheiten vertrauen und gern folgen.
WELT: Heute prägt Politikverdrossenheit die Stimmung in vielen westlichen Ländern und besonders in der Bundesrepublik. Was, glauben Sie, wäre Helmut Schmidts Rezept dagegen gewesen?
Stubbe da Luz: Wer weiß schon, ob Schmidt persönlich ein solches Rezept eingefallen und geglückt wäre, damals? Und würde ihm das aktuell gelingen, wenn er noch lebte und mit all dem Wandel Schritt gehalten hätte? Doch kann man bestimmte Handlungsmuster quasi isolieren, die an Schmidt zu beobachten waren – im politischen Alltag, abgesehen von Sturmflut und Mogadischu: Eine energische Kommunikation, die aufhorchen lässt; die Demonstration eines Willens zur Durchsetzung des einmal Beschlossenen; eine Ausstrahlung von Wertebewusstsein und Sachkompetenz.