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Geschichte Traudl Bünger

Wenn der eigene Vater ein Rechtsterrorist war

Wie wird man damit fertig, dass der eigene Vater ein Sprengstoffattentäter war und ein unschuldiges Menschenleben auf dem Gewissen hatte? Traudl Bünger hat die Zeitgeschichte ihrer Familie erforscht. Die Spuren führen nach Südtirol und nach Ost-Berlin.
Redakteur im Feuilleton
Ein 1961 durch einen Anschlag beschädigter Strommast an der Eisenbahnstrecke von Brig in der Schweiz nach Italien Ein 1961 durch einen Anschlag beschädigter Strommast an der Eisenbahnstrecke von Brig in der Schweiz nach Italien
Ein 1961 durch einen Anschlag beschädigter Strommast an der Eisenbahnstrecke von Brig in der Schweiz nach Italien
Quelle: picture alliance/dpa/ATP Bilderdienst

Dass Italien in ihrer Kindheit nie ein Urlaubsziel war, ist ihr erst rückblickend aufgefallen. Andere Deutsche fuhren in Karawanen über den Brenner und tummelten sich am Strand der Adria. Das hat es in der Familie Bünger nie gegeben. Konnte und durfte es nicht, erzählt Traudl Bünger. Ihr Vater wäre in Italien verhaftet worden. Für was genau, wussten Traudl, ihre ältere Schwester und die Mutter bis an sein Lebensende nicht. Denn Heinrich Bünger hat, solange er lebte, zu seiner Terrortat geschwiegen. Bünger, Jahrgang 1935, ist 2016 gestorben. Traudl Bünger fand auf dem elterlichen Dachboden allerlei. Nicht nur ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Sondern auch Schriften von Thies Christophersen, einem Holocaust-Leugner („Die Auschwitz-Lüge“). Und drei Taschenuhren mit einem Zeitzünder.

Heute sitzt die 48-jährige Traudl Bünger in einem Café in Köln und erzählt. Wie sie zunächst ganz für sich privat zu recherchieren begann, Aufklärung in den Gerichtsakten suchte. Wie die Funde während fünf Jahren immer mehr wurden. Und schließlich eine Buchidee entstand. Warum die Geschichte ihres Vaters die Öffentlichkeit angeht? Weil sie exemplarisch aufzeigt, dass das rechtsradikale, das völkisch-nationale Denken, nie weg war aus Deutschland. Man hat es in früheren Jahrzehnten vielleicht nur stärker ausgeblendet.

Heinrich Bünger, ein promovierter Ingenieur bei Bayer, wurde als Rechtsradikaler aktenkundig, polizeibekannt, angeklagt. Nicht nur er. Auch sein Zwillingsbruder Fritz, leitender Angestellter bei den Kölner Ford-Werken. „Na ja, es hat nicht jeder brave Bundesbürger die Sachen gemacht, die wir damals gemacht haben. Das heißt nach Südtirol, Berlin und so. Und da haben wir schon Decknamen benutzt.“ Das bekommt Traudl Bünger 2021 von ihrem Onkel Fritz zu hören.

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Heute hat sie die „Sachen“ von „damals“ rekonstruiert: Die Brüder Bünger zündeten im Oktober 1962 zwei Bomben in Italien. Sie fuhren über den Brenner, nahmen den Sprengstoff auf einer Hütte in Empfang. Ein Sprengsatz detonierte nachts auf dem Bahnhof von Trient, ein anderer in Verona. Hier versagte der von Heinrich Bünger gebastelte Zeitzünder, weswegen die Bombe mitten am Tag hochging. Gaspare E., ein Mitarbeiter der Gepäckaufbewahrung, kam dabei ums Leben. Ihr Vater hat also ein unschuldiges Menschenleben auf dem Gewissen.

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Es gab damals, Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahre eine ganze Anschlagserie in Italien. Einmal, am 11./12. Juni 1961, wurden in einer einzigen Nacht 37 Strommasten gesprengt. Es ging um Sabotage der Stromzufuhr für die angesiedelte italienische Industrie in der ehemals bäuerlichen Provinz Bozen. Verantwortlich dafür waren separatistische Terroristen. Der „Befreiungssauschuss Südtirol“ versuchte, den italienischen Staat unter Druck zu setzen: Die alteingesessene deutschsprachige Bevölkerung der Region wollte Autonomie – völkerrechtlich verbürgte Minderheitenrechte, die Italien nur zögerlich gewährte. Der Konflikt schwelte seit Ende des Ersten Weltkriegs, als Südtirol zu Italien kam. Später versprach Hitler seinem Verbündeten Mussolini den Verbleib der Provinz Bozen in Italien; anders als die Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei wurden die Südtiroler nicht „heim ins Reich“ geholt.

Die Südtirol-Frage bewegte auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch viele, keineswegs nur rechtsextrem und großdeutsch Gesinnte in Österreich und Deutschland. Allerdings waren Traudl Büngers Vater Heinrich und sein Zwillingsbruder Fritz engagierte Mitglieder im „Bund nationaler Studenten“ (BNS). Diese ab 1961 verbotene Studentenvereinigung war völkisch orientiert, lud zu Vorträgen über Kriegsschuld und Themen wie „Demokratie – eine Gefahr oder Notwendigkeit?“ oder die „Ostgebiete“ (also das verlorene Schlesien und Ostpreußen). Auch Südtirol trieb die Szene um. Auf Kanzler Adenauer war man sauer, weil der 1961 als Regierungschef gesagt hatte, aus der Südtirol-Frage werde sich die Bundesrepublik heraushalten. Durch Flugblätter mit dem Titel „Über Südtirol. Eine Aufgabe für alle Deutschen“ müssen sich die Bünger-Brüder radikalisiert haben.

Sie agierten in einem Netzwerk, das neben der Südtirol-Frage in Italien auch gegen die DDR mobilisierte: mit Sprengsätzen gegen die Grenzsicherungsanlagen Ost-Berlins, die sie als Fremdherrschaft gegen ein einiges nationales Deutschland empfanden. Manfred Schröder, einer der Südtiroler Mittäter vom Oktober 1962, wurde 1963 in Ost-Berlin beim Legen eines Sprengsatzes verhaftet und monatelang intensiv verhört. Traudl Bünger hat die zugehörigen Akten im Stasi-Archiv studiert.

Als die Stasi drohte, Schröder nach Italien auszuliefern, hat er die Namen seiner Mittäter preisgegeben. Das SED-Regime präsentierte diese Ermittlungen Ende 1963 in einer großen Pressekonferenz, als Propagandacoup gegen die Bundesrepublik, deren „nationalistisch“ und „revanchistisch“ gesinnte Netzwerke nicht nur die DDR, sondern auch „Norditalien“ mit Terror überzögen. Es gab später auch eine Anklage gegen Traudl Büngers Vater in Italien, und zwar in Mailand, im Rahmen des Südtirol-Prozesses ab 12. Januar 1966.

Traudl Bünger wundert bis heute, wie lange es dauerte, bis westdeutsche Medien auf die bekannt gewordenen Namen aufmerksam und Ermittlungsbehörden gegen ihren Vater und Onkel aktiv wurden. Als Heinrich Bünger am 19. Juli 1966 verhaftet wird, erklärt er alles mit einem Irrtum. Sein Bruder entzieht sich der Verhaftung spektakulär, indem er die Beamten bei der Durchsuchung seines Hauses in eine Falle lockt und einsperrt wie in einem schlechten Krimi. Fritz Bünger gelingt die Flucht über Wien bis nach Südafrika, wo er bis zur endgültigen Einstellung des Justiz-Verfahrens in Deutschland im Jahr 1983 unbescholten als Farmer lebt – das damals aufgrund seines Apartheidregimes isolierte Land hatte kein Auslieferungsabkommen mit der Bundesrepublik.

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In Köln wird Heinrich Bünger 1967 nach sechs Monaten aus der U-Haft entlassen. Seine Stelle bei Bayer hat er verloren. Er heuert bei einer Dynamitfirma an, „um der Staatsanwaltschaft und der politischen Polizei eine kleine Freude zu bereiten“. Er bleibt seinen rechtsradikalen Alternativmedien, Netzwerken und Büchern treu. Am 3. September 1975 gibt es einen neuen Haftbefehl wegen des Sprengstoffverbrechens mit Todesfolge, „die alte Geschichte“.

Bünger sitzt diesmal einen Monat und einen Tag in Untersuchungshaft. Ganze vier Jahre später, am 4. Oktober 1979, wird vor dem Landgericht Köln das Verfahren eröffnet. Am 29. Mai 1980 wird Heinrich Bünger zu drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Doch dieses erstinstanzliche Urteil wird nicht vollzogen, es wird nach erfolgreicher Revision 1982 vom Bundesgerichtshof kassiert. Zweitinstanzlich kommt das Verfahren dann ans Landgericht Bonn und wird 1983 schließlich endgültig eingestellt. Ergebnislos.

„Im Südtirol-Thema steckte für ihn ein völkischer Gedanke drin“

Es gab nie eine rechtskräftige Verurteilung des Vaters. Zu den Tatvorwürfen habe er sich auch in der Familie nie geäußert, erzählt Traudl Bünger. „Ich frage mich manchmal, ob es mit einem echten Schuldspruch die Notwendigkeit, vielleicht auch Freiheit für meinen Vater gegeben hätte, die Schuld anzuerkennen. Und mit uns, seiner Familie, endlich über die Taten zu sprechen.“ Traudl Bünger hätte all das gern erfahren. Doch stattdessen gab es, wann immer es auf dieses Thema kam: eisernes Schweigen.

Im Mai 2003 erfuhr ihr Vater, dass seine Taten in Italien verjährt waren und er auch dort nicht mehr verhaftet werden konnte. Von da an fuhr er wieder nach Südtirol, das inzwischen befriedet war. Eine Reise ohne Sprengstoff, als Urlauber. „Im Südtirol-Thema steckte für ihn ein völkischer Gedanke drin“, glaubt Traudl Bünger noch heute. Den „rassischen Mischmasch“ habe er immer abgelehnt. Bei Kindergeburtstagen habe sie – die in den 1980ern in NRW natürlich längst mit migrantischen Mitschülern aufwuchs, „Ausländerkinder“ anmelden müssen, maximal ein oder zwei seien erlaubt gewesen, erinnert sich Bünger.

Der Südtirol-Aktivismus war nur eine Facette der rechtsradikalen Gesinnung des Vaters. Der andere Komplex war die Holocaust-Leugnung. Man muss schlucken, wenn Traudl Bünger im Buch entsprechende Phrasen ihres Vaters wiedergibt. Die Täter-Opfer-Umkehr kennt man auch von Rechtsradikalen, die an die Zerstörung Dresdens durch die Luftangriffe vom 13. Februar 1945 erinnern und Begriffe wie „Bombenholocaust“ dafür verwenden, während sie die deutsche Kriegsschuld ausblenden.

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Aus der Zeitgeschichtsforschung ist bekannt, dass Täterkinder ähnlich wie Opferkinder etwas „erben“. Das gilt gar nicht nur in Bezug auf das größte Verbrechen der Menschheit, den Holocaust, sondern auch in Bezug auf Terroranschläge oder Attentate. Nachfahren müssen sich dazu verhalten. Wenn Taten schwer wiegen, mag es leichter fallen, sich von der Empathie für Angehörige zu befreien. Ein bekanntes Beispiel wäre Niklas Frank, der Sohn des NS-Verbrechers Hans Frank („Schlächter von Polen“), der seinen Vater quasi-exorzistisch als Vogelscheuche mit Lederjacke im Garten aufgestellt hat.

„Ein Täter von diesem Kaliber ist mein Vater ja nicht“, sagt Traudl Bünger. Ihr Vater sei immer auch ein liebevoller Mensch gewesen, genau deswegen schmerzten seine politischen An- und Einsichten so sehr, erklärt Bünger. „So sehr ich ihn für das, was er getan und gedacht hat, verurteile, so sehr habe ich natürlich auch private positive Gefühle und Erinnerungen für ihn. Er ist mein Vater. Man möchte als Tochter uneingeschränkt lieben dürfen. Aber man kann es ja nicht.“

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Die Form, in der Traudl Bünger die Verstrickung ihres Vaters in die Zeitgeschichte zu Papier gebracht hat, ist speziell: kaleidoskopisch. Ihr Buch erzählt in weiten Teilen von Recherche: wie und wo sie welches Archiv besucht und aufgestöbert hat, schildert sie im Modus des Verlaufs, nicht als Ergebnis. In anderen Passagen rekonstruiert die Autorin erzählerisch, was sich damals wie zugetragen haben könnte. Der romanhafte Thrill dieser Passagen wird jedoch immer wieder gezielt gebrochen – und ergänzt um Zitatpassagen aus Originaldokumenten, Ermittlungsakten und Zeitungsartikeln.

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Quelle: N24 Doku

„Mir war klar, dass ich diese Geschichte nicht wie einen durchgeplotteten Dokumentarroman aufschreiben konnte. Man hätte es so machen können. Doch ich wollte und musste mich immer wieder distanzieren“, sagt Bünger. „Es wäre unlauter gewesen, so zu tun, als sei ich eine neutrale Beobachterin. Ich bin die Tochter, habe einen Konflikt, den ich mit mir selbst, dem Buch und seiner Leserschaft verhandeln muss.“

Als Form führt Büngers Buch exemplarisch vor, was auf einen zukommt, wenn man sich in zeithistorische Archive begibt, um in Familien- oder anderen Angelegenheiten nachzuforschen: Akten und andere Quellen sind ein mühsames, aber auch detektivisches Puzzlespiel.

Kann ihr Beispiel andere ermutigen, selbst in Familienangelegenheiten zu recherchieren, Geschichtsschreibung von unten zu wagen? „Ich hoffe das“, sagt Bünger. „Denn ich glaube, wann immer zeitgeschichtliche Verstrickungen ins Spiel kommen, wird in vielen Familien geschwiegen. Die Gespenster der Vergangenheit müssen nicht immer so dramatisch sein wie in meinem Fall. Aber der Prozess, sich selbst Klarheit zu verschaffen, hat etwas Befreiendes. Für eine Gesellschaft und für einen selbst.“ Man müsse dann nicht mehr passiv in Ungewissheit leben, sondern habe aktiv etwas zur Aufklärung beigetragen. Das sei ein wichtiges Gefühl.

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