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  3. Ernst Wilhelm Borchert: Nachdem sein Bataillon aufgelöst wurde, versuchte er sich zu Fuß durchzuschlagen

Geschichte „Die Mörder sind unter uns“

„Borchert ist also allein. Nein, schlimmer als das. Er ist umgeben von Leichen“

Ernst Wilhelm Borchert, der Hauptdarsteller von „Die Mörder sind unter uns“, war von einem ganz persönlichen Drama gezeichnet. Der Film wurde 1946 nicht nur in Ost-und Westdeutschland ein Erfolg, sondern auch im Ausland.
Hildegard Knef und Ernst Wilhelm Borchert in einer Szene aus „Die Mörder sind unter uns“ Hildegard Knef und Ernst Wilhelm Borchert in einer Szene aus „Die Mörder sind unter uns“
Hildegard Knef und Ernst Wilhelm Borchert in einer Szene aus „Die Mörder sind unter uns“
Quelle: picture alliance / Everett Collection

Was für ein Titel: „Die Mörder sind unter uns“! Ganz so, als habe man anderthalb Jahre nach Kriegsende Alarm schlagen wollen, damit Alt-Nazis und Kriegsverbrecher nicht noch einmal zum Zuge kämen. Die Uraufführung des von Wolfgang Staudte gedrehten DEFA-Films sollte am 15. Oktober 1946 in Berlin stattfinden – im Admiralspalast, der damaligen Spielstätte der Deutschen Staatsoper.

Und das alles, der Kalte Krieg war noch nicht ausgebrochen, im Beisein hoher Offiziere aller vier Besatzungsmächte, also auch der Sowjets, sowie mit Otto Grotewohl dem späteren Ministerpräsidenten der DDR und mit Wilhelm Pieck ihrem künftigen Staatsoberhaupt. Wie von einem insgeheimen Regisseur ganz anderer Art synchronisiert, sollten ausgerechnet in derselben Nacht die im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher verhängten Todesurteile vollstreckt werden.

Kurz vor der Filmpremiere war es jedoch zu einem Eklat gekommen. Berliner Zeitungen hatten berichtet, dass der Name des Hauptdarstellers Ernst Wilhelm Borchert aus dem Programmheft getilgt worden sei und er auch bei der Premiere nicht persönlich anwesend sein würde. Es hieß, er habe in einem Fragebogen der Amerikaner seine NSDAP-Mitgliedschaft verschwiegen. Und das war mehr als nur ein Gerücht.

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Ernst Wilhelm Borchert, geboren am 13. März 1907 in Berlin-Neukölln, hatte seine Bühnenkarriere 1927 begonnen. Nach Theaterstationen in Erfurt und Köln kam er schließlich an die Berliner Volksbühne. Besonders in klassischen Rollen des Charakter- und Heldenfachs beeindruckte Borchert Kritiker wie Publikum gleichermaßen. Sein kantiges Gesicht, seine Ernst und Strenge ausstrahlende Stimme schienen nur zu gut zu seinen Rollen zu passen.

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Da am 1. September 1944 wegen der zunehmenden Bombardierung der Reichshauptstadt alle Berliner Theater schlossen, war auch für Borchert erst einmal Schluss. Kurz darauf wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Schweren Herzens hatte er sich von seiner Frau Gerda und ihrem gemeinsamen Töchterchen Sigrid trennen müssen. Sein erster Einsatz war im Januar 1944 im Elsass, danach folgte ein weiterer in der Pfalz.

Borchert im Jahr 1969
Borchert im Jahr 1969
Quelle: picture alliance /

Je näher das Kriegsende kam, umso mehr überschlugen sich die Ereignisse. Nachdem sein Bataillon aufgelöst worden war, versuchte Borchert sich zu Fuß nach Berlin durchzuschlagen. Am 17. Juni 1945 traf er in seiner weitgehend zerstörten Heimatstadt ein. Wie ein Gehetzter eilte er von Ruine zu Ruine. Er ahnte nicht, dass ausgerechnet diese Trümmerlandschaft, durch die er mehr stolperte als lief, bald schon die Kulisse für seinen wohl beeindruckendsten Filmerfolg liefern würde.

Endlich stand Borchert vor seinem Haus in Berlin-Frohnau – An der Buche 7, wie die Adresse lautete. Womit er dort konfrontiert wurde, hat er später in einem an die Entnazifizierungs-Kammer der Kunstschaffenden gerichteten Bericht nüchtern in den Worten zusammengefasst: „7 Menschen waren nicht mehr am Leben. Ein bei mir wohnender Verwandter hatte in der Panikstimmung der Einnahmetage meine Frau, meine Tochter, seine Frau und sich selbst erschossen. Mein ebenfalls bei mir wohnender Wirt wählte den Tag darauf auch den Freitod für sich und seine Frau, wobei er noch meine Pflegetochter mitnahm, die ihn darum gebeten hatte.“

Wie sollte Borchert angesichts einer solchen Katastrophe noch weiterleben? Seine eigene Familie war ausgelöscht. Konnte es überhaupt noch irgendeinen Sinn für einen Kriegsheimkehrer wie ihn geben, diesen Schock zu überwinden und auf einen Neuanfang zu hoffen?

Er wollte nur noch eines: spielen

Der Sterbeurkunde ist zu entnehmen, dass Gerda Borchert zusammen mit ihrer 9-jährigen Tochter Sigrid am 22. April 1945 im Keller des Frohnauer Hauses tot aufgefunden worden war. Curt Riess, Schriftsteller jüdischer Herkunft, beschreibt Borcherts Gemütszustand mit den Worten: „Borchert ist also allein. Nein, schlimmer als das. Er ist umgeben von Leichen. […] Das sind Augenblicke, in denen sehr normale, vernünftige Menschen – und ein solcher ist Borchert wohl – verrückt werden.“ Um dies nicht zu werden, wollte er nur noch eines: spielen. Jeder Schauspieler, der an einem Theater auftrat, das sich auf amerikanisch besetztem Gebiet befand, musste allerdings den gefürchteten Entnazifizierungsbogen mit seinen 131 Fragen ausfüllen. Auch Borchert musste das.

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Dabei verschwieg er allerdings seine Mitgliedschaft in der NSDAP. So trat er am Hebbel-Theater auf und spielte dort Abend für Abend. Unter anderem in „Die Illegalen“, einem von Günther Weisenborn verfassten „Drama aus der deutschen Widerstandsbewegung“. Als Staudte ihn darin in der Figur des Walter sah, engagierte er Borchert auf der Stelle. Schon wenige Tage später begannen die Dreharbeiten zu „Die Mörder sind unter uns“. Doch beinahe wäre der Film gar nicht zustande gekommen. Denn weder die amerikanischen noch die britischen Kontrolloffiziere wollten ihn. Erst der sowjetische Kulturbeauftragte sagte zu – und zwar sofort. Politisch betrachtet schien Staudtes Filmprojekt nur zu gut zu den antifaschistischen Ambitionen der Sowjets zu passen.

Der Film spielt in der Trümmerlandschaft der einstigen Reichshauptstadt, atmosphärisch geprägt von der ersten Weihnachtszeit nach dem Krieg. Es ist die Geschichte eines dramatischen Wiedersehens zwischen dem von Borchert verkörperten ehemaligen Militärchirurgen Dr. Hans Mertens und dem Hauptmann a.D. Ferdinand Brückner, dargestellt von Arno Paulsen. Dieser hatte Weihnachten 1942 an der Ostfront ohne irgendwelche Skrupel polnische Männer, Frauen und Kinder erschießen lassen. Mertens hatte in dieser verhängnisvollen Nacht vergeblich versucht, ihn davon abzuhalten. Nun ist Brückner in kürzester Zeit ein äußerst erfolgreicher Unternehmer geworden. In seiner Fabrik werden – auch ideologisch durchaus passend – aus Stahlhelmen Kochtöpfe gefertigt.

Beginn der Dreharbeiten zu „Die Mörder sind unter uns“
Beginn der Dreharbeiten zu „Die Mörder sind unter uns“
Quelle: picture-alliance/MN/BD

Mertens Mitbewohnerin ist eine junge Fotografin namens Susanne Wallner, die gerade erst ein Konzentrationslager überlebt hat. Sie wird von der 20-jährigen Hildegard Knef gespielt, die noch kurz vor Kriegsende dabei war, zum aufstrebenden Star der UFA zu werden. Der KZ-Überlebenden gehört die Wohnung, in der sich nun ein ihr völlig fremder Mann befindet. Sie spürt, dass der einstige Arzt nun selbst einen Menschen braucht, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Mertens macht einen überaus traumatisierten Eindruck und versucht seine Depressionen zunehmend mit Alkohol zu betäuben.

Bei einem seiner Gänge durch die Trümmerwüste wird der von Brückner begleitete Mertens von einer völlig aufgelösten Frau angesprochen. Ihre in einer Ruine zurückgelassene Tochter droht zu ersticken. Es ist ausgerechnet der mutmaßliche Kriegsverbrecher, der an ihn appelliert, sich doch als Mediziner zu erkennen zu geben und zu Hilfe zu eilen. Widerstrebend leistet er der Aufforderung schließlich Folge und wird zum Retter in der Not. Mit einem Luftröhrenschnitt gelingt es ihm, das junge Mädchen zu retten. Danach wirkt er wie verwandelt. In den psychisch gelähmten Mertens scheinen die Lebenskräfte wie auf einen Schlag zurückzukehren.

Es ist unklar, ob Staudte diese Szene Borchert auf den Leib geschnitten hat. Für diesen dürfte allerdings kaum ein Zweifel existiert haben, in dem todkranken Mädchen die eigene Tochter gesehen zu haben. Und nun hat er, der im entscheidenden Moment nicht bei seiner Familie sein konnte, stellvertretend ihr Leben gerettet. Aus einer irreversiblen Tragödie ist dank der von ihm gespielten Rolle ein Akt der Hoffnung geworden. Und das nicht nur im Film, sondern vielleicht auch in seiner Existenz als einem Übriggebliebenen, einem aus dem Krieg Zurückgekehrten, der Frau und Tochter verloren hat.

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Als Mertens am Heiligen Abend die Wohnung verlässt, um angeblich etwas zu erledigen, wird Wallner misstrauisch und folgt ihm. In letzter Minute kann sie verhindern, dass der Mann, in den sie sich mittlerweile verliebt hat, Selbstjustiz übt und Brückner erschießt. In Staudtes ursprünglicher Drehbuchversion war der Gewissenskonflikt des Arztes noch ganz anders ausgegangen. Dr. Mertens hatte tatsächlich kurzen Prozess gemacht und den Kriegsverbrecher erschossen.

Diese Fassung, „die Mörder unter uns“ nicht einfach davonkommen zu lassen, scheiterte jedoch an der Zensur der sowjetischen Besatzungsorgane. Man wollte offenbar nicht den Eindruck erwecken, als hätte man mit dem Film zur Selbstjustiz aufrufen wollen. Angesichts dieses Eingriffs liest sich der Schlussdialog wie ein nachgeschobener Kommentar zur verhinderten Urfassung: „Wir haben nicht,“ heißt es dort, „das Recht zu richten, aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern, im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen.“ Offen blieb jedoch, ob nicht die Justiz den Fall besser übernehmen und über einen derartigen Angeklagten hätte urteilen sollen.

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Im Keller des Hebbel-Theaters waren derweil die Papiere aller Schauspieler in einem Panzerschrank gefunden worden, die dort während des „Dritten Reichs“ aufgetreten waren. Damit lag auch der Beweis vor, dass Borchert am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP geworden war. Am 15. August 1946 wurde er von der amerikanischen Geheimpolizei verhaftet und wegen Fragebogenfälschung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

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Quelle: N24 Doku

Zu seiner frühen Partei-Mitgliedschaft hatte er erklärt, dass seine Kollegen, die alle demokratisch eingestellt oder als Juden gefährdet gewesen seien, ihn darum gebeten hätten, in die Partei einzutreten, um sich im Ernstfall schützend vor sie stellen zu können. Obwohl das von einer ganzen Reihe seiner Kollegen bezeugt wurde, so klang es doch ziemlich konstruiert. Bereits nach drei Monaten kam er wieder auf freien Fuß.

Der spektakuläre Film wurde nicht nur in Ost-und Westdeutschland ein Erfolg, sondern auch im Ausland – ob bei der Biennale in Venedig oder aber in London, Wien oder Paris. In Hollywood gab es sogar eine Sondervorstellung, mit einer Einführung von keinem Geringeren als dem in die USA emigrierten Regisseur Billy Wilder.

Als Borchert 1977 in einem Rundfunkinterview seine Schauspieljahre nach dem Krieg Revue passieren ließ, schloss er es mit der Bemerkung, dass die Verkörperung des Dr. Mertens in „Die Mörder sind unter uns“ die Rolle seines Lebens gewesen sei. Was diese aber mit seinem eigenen Leben zu tun hatte, darüber wollte er auch nach drei Jahrzehnten offenbar immer noch nicht sprechen. Ernst Wilhelm Borchert starb am 1. Juni 1990 – ein halbes Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer.

Karin König ist Autorin, zuletzt erschien von ihr 2020 „Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben. Hermann Flade – Eine Biographie“.

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