Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, weiß der Volksmund. Und vorgeschützte Unwissenheit schon mal gar nicht. Dass der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke, der tatsächlich ein Staatsexamen als Geschichtslehrer absolviert hat (wenn auch in Hessen), angeblich nicht wissen will, dass der von ihm verwendete Spruch „Alles für Deutschland“ rund zwei Jahrzehnte lang das Motto der nationalsozialistischen SA war, ist schon in sich unglaubwürdig. Hier dürfte eher bewusste Ignoranz vorliegen als echte Unkenntnis.
Bei eindeutig nationalsozialistischen Formeln geht derlei nicht – nicht einmal Rechtsextremisten können behaupten, nicht zu wissen, was der „Deutsche Gruß“ (die offizielle Bezeichnung für „Heil Hitler“) ist. Oder woher die perfide Behauptung „Arbeit macht frei“ stammt, die an den Toren verschiedener KZs stand, zum Beispiel in Dachau, Sachsenhausen und dem Stammlager Auschwitz. Dass „Meine Ehre heißt Treue“ das Motto der SS war, darf als Allgemeinwissen voraussetzt werden und ebenso, dass die Parole „Blut und Ehre“ seit 1933 in die Dolche der Hitlerjugend geprägt war. „Deutschland erwache“ forderte nicht nur Hitler vielfach in Reden, es war auch der Schlachtruf bei unzähligen NSDAP-Veranstaltungen.
All diese Redewendungen können strafrechtlich sanktioniert werden, in der Regel wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen, was der Paragraf 86a des Strafgesetzbuches untersagt, oder wegen Volksverhetzung (Paragraf 130). Aber wie ist es mit anderen Formulierungen, die von Nationalsozialisten verwendet worden sind? Etwa mit „Jedem das Seine“? Mit „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“? Oder eben „Alles für Deutschland“?
Natürlich war als Verhöhnung der Insassen gedacht, dass im Gittertor zum Häftlingsbereich des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar die Sentenz „Jedem das Seine“ steht. Die Buchstaben sind so ausgerichtet, dass sie von innen, dem Appellplatz, gelesen werden konnten; außerdem wurde die zu den Häftlingen ausgerichtete Seite ungefähr jährlich rot angestrichen, die Außenseite aber nur ein einziges Mal.
Doch der Gedanke hinter den drei Wörtern hat nichts Nationalsozialistisches an sich. Schon die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles benutzten ganz ähnliche Formulierungen, ebenso der Römer Cicero. In der spätantiken Rechtssammlung Corpus Iuris Civilis findet sich erstmals genau die Formulierung „Suum cuique“, die seither vielfach zitiert wurde, auch beispielsweise von Immanuel Kant 1785.
Trotz der zynischen Verwendung in Buchenwald wurde diese Formel nach 1945 vielfach verwendet. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ argumentierte etwa 1948: „Jedes Gesetz soll dazu dienen, dem Grundsatz ,Jedem das Seine’ Geltung zu verschaffen.“ WELT fand 1954: „Der Grundsatz der Gerechtigkeit lautet doch: ,Jedem das Seine’ und nicht ,Allen das Gleiche’.“ Ähnlich der „Spiegel“ 1971 und viele andere Medien.
Trotzdem wurde 1998 ein gewisser Trutz Hardo verurteilt, weil er in seinem Roman mit dem Titel „Jedem das Seine“ geschrieben hatte, in Buchenwald sei jedem „in konzentrierter Weise das ihm aus karmischer Gesetzmäßigkeit zustehende Schicksal zugewiesen (worden, d. Red.), um seine Verschuldung abzuarbeiten und dadurch freizuwerden“. Das führte zur rechtskräftigen Verurteilung wegen Volksverhetzung und zum Verbot des Buches, das in einem Esoterik-Verlag erschienen war.
Vorwerfbar war in diesem Fall nicht die Verwendung der drei Wörter an sich, sondern der Kontext, in den sie gestellt wurden. Das ist entgegen der gespielten Naivität der Ertappten immer entscheidend. Denn selbstverständlich darf jede nationalsozialistische Formulierung im Kontext der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zitiert werden – ohne Tätersprache zu benutzen, wäre Forschung sogar unmöglich. Dagegen ist es volksverhetzend, das Denken der Buchenwalder SS aufleben zu lassen.
Noch schwieriger als bei „Jedem das Seine“ ist es mit der Formulierung „Gemeinnutz vor Eigennutz“. Spontan mag man diesen drei Wörtern schwerlich widersprechen – denn wer möchte schon guten Gewissens für „Eigennutz“ plädieren? Doch diese Formel war eine von nur zwei typografisch herausgehobenen Forderungen des einzigen NSDAP-Parteiprogramms von 1920, neben dem sinnfreien Dogma „Brechung der Zinsknechtschaft“.
In „Gemeinnutz vor Eigennutz“ kulminierte das Selbstverständnis der Hitler-Bewegung, die im Gegensatz zu den allermeisten gängigen Behauptungen eben doch sozialistisch war. Zahlreiche Quellen beweisen, dass gerade dieser Gedanke für zahlreiche Anhänger der Hitler-Bewegung entscheidend war – wie sonst nur noch der Wille, den „Schmachfrieden von Versailles“ zu revidieren. Noch vor der Machtübernahme der NSDAP urteilte 1931 der junge Politikwissenschaftler Ulrich von Hasselbach, selbst ein überzeugter Nazi, in seiner Doktorarbeit: „Das Wesen, das Besondere der neuen Gedankenwelt kommt am klarsten zum Ausdruck in dem einfachen Schlagwort, das zum Kernpunkt des nationalsozialistischen Programms geworden ist: ,Gemeinnutz vor Eigennutz‘.“
Auch diese Formel wurde nach 1945 vielfach völlig losgelöst von ihrem Ursprung (vor 1920 ist sie nur ganz schwach gelegt) vielfach verwendet, und das bis ins 21. Jahrhundert hinein. In der linken Berliner „Tageszeitung“ findet sie sich 2019 ebenso wie 2015 in der WELT AM SONNTAG. Doch auch Rechtsextremisten nutzten die dahinter stehende Vorstellung – so sagte der zeitweilige AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann 2003, als er noch für die CDU im Parlament saß: „Wie viele Menschen in Deutschland klopfen ihre Pläne und Taten auch darauf ab, ob sie nicht nur eigennützig, sondern auch gemeinschaftsnützig sind?“
Dabei verstehen es bereits Schüler einer normalen gymnasialen Oberstufe, die Formel „Gemeinnutz vor Eigennutz“ zu entzaubern: „Wer legt denn fest, was ,Gemeinnutz‘ ist?“, lautet die bei vielen Veranstaltungen so oder ganz ähnlich gestellte Frage. In der Tat muss, wenn „Gemeinwohl“ von „Eigenwohl“ gehen soll, zwangsläufig irgendwer festlegen, was denn das ominöse „Gemeinwohl“ sein soll. Und es müssen Sanktionen bereitgehalten werden für jene, die damit nicht konform gehen.
Schließlich „Alles für Deutschland“. Die Formulierung war auf hunderttausende SA-Dolche graviert, fand sich auf unzähligen Flugblättern der Braunhemden, in NS-Zeitungen und vielfach andernorts. Nach 1945 war es unter anderem der Wahlspruch rechtsextremer Partisanen und Teil der Grußformel der neonazistischen „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“, die lautete: „Mit vorzüglicher Hochachtung Alles für Deutschland“.
Doch andererseits benutzten auch immer wieder Sportler diese Formulierung und ebenso der Chef der Werbeagentur, die 2002 den SPD-Wahlkampf orchestrierte. Sogar die über jeden Verdacht erhabene Holocaust-Überlebende und langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Charlotte Knobloch verwendete die drei Wörter gelegentlich.
Es kommt hier wie immer auf den Kontext an: Wer „Alles für Deutschland“ im Rahmen einer politischen Versammlung sagt, gar ausruft, stellt sich in den Kontext der SA, benutzt nämlich den Wahlspruch der Braunhemden als politisches Statement. Das ist strafbar nach Paragraf 86a. Wer dagegen nur dieselben drei Wörter in unpolitischem Zusammenhang verwendet, tut nichts Verbotenes.
Dieser Artikel wurde erstmals im April 2024 veröffentlicht.