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Geschichte Sexualkundeatlas

Das Sex-Buch mit dem Charme einer Anleitung für Kühlschränke

Mit dem Sexualkundeatlas für Schulen wollte Gesundheitsministerin Käte Strobel der Jugend im Juni 1969 ein Tabuthema näherbringen. Doch nicht nur Konservative wetterten gegen den Ratgeber. Das hatte einen Grund.
Textchef ICON / Welt am Sonntag
"Woodstock" / Besucher des Festivals Film: "Woodstock" (Woodstock - Three Days of Love and Music) (Dokumentarfilm ueber das dreitaegige Musikfestival in Woodstock/USA vom 15.8. 17.8.1969; Regie: Michael Wadleigh). - Besucher des Festivals. - Foto. "Woodstock" / Besucher des Festivals Film: "Woodstock" (Woodstock - Three Days of Love and Music) (Dokumentarfilm ueber das dreitaegige Musikfestival in Woodstock/USA vom 15.8. 17.8.1969; Regie: Michael Wadleigh). - Besucher des Festivals. - Foto.
Freie Liebe als Versprechen: Fast gleichzeitig mit Erscheinen des Sexualkundeatlas fand das Festival in Woodstock statt
Quelle: picture-alliance / akg-images
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Wenn es eine Regel gibt, die noch für jede Generation von pubertierenden Schülern gegolten hat, dann lautet sie: Der Feind steht vor der Klasse. Pardon wird nicht gegeben – und wer den Lehrern nette Gesten zukommen lässt, der tut es bestimmt nicht aufrichtig, sondern strategisch im Modus der Einschleimerei. Doch ist bekanntlich keine Regel ohne Ausnahme, und so überkommt selbst hartgesottene Rebellen der Schulbank zuweilen ein Anflug von Mitleid, wenn Pädagoginnen und Pädagogen mit der Geschichte „Wie die Bienchen dafür sorgen, dass es immer neue Blümchen gibt“ zum Thema Sexualkunde überleiten.

Über Sex reden zu müssen, ohne wirklich über Sex reden zu dürfen, das ist die ultimative Gemeinheit. Wenn das auch noch vor Jugendlichen zu passieren hat, deren Hormonhaushalt so stabil ist wie die Fieberkurve eines Malariakranken, dann umso schlimmer für die Lehrkraft. Doch was soll man tun? Dem Nachwuchs im 21. Jahrhundert, in dem sich ein erheblicher Teil der digitalen Welt ausschließlich um Geschlechtsverkehr dreht, noch zu erzählen, der Klapperstorch bringe die Babys, käme wohl irgendwie nicht mehr so ganz zeitgemäß rüber.

Das Cover des "Sexualkunde-Atlas", der am 10. Juni 1969 erschien und von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) als Schulbuch herausgegeben wurde. Vor 50 Jahren erschien mit dem Sexualkunde-Atlas das erste westdeutsche Schulbuch zum Thema. Heute ist Aufklärung im Biounterricht selbstverständlich. (zu dpa "Mehr als Bienchen: 50 Jahre Sexualkunde an Schulen") +++ dpa-Bildfunk +++
Eher abstrakt: Auf dem Cover des "Sexualkunde-Atlas" war der Geschlechtsakt nicht zu sehen
Quelle: picture alliance/dpa/BZgA

Sieht man vom Internet ab, stellten sich die gleichen Probleme im Juni 1969. Gesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) hatte einen Sexualkundeatlas zum Gebrauch in deutschen Schulen vorgelegt und damit eine Debatte losgetreten, an der sich neben Politikern vor allem Pädagogen, Psychologen und Theologen beteiligten.

In der Sowjetischen Besatzungszone hatte Aufklärungsunterricht bereits seit 1947 stattgefunden. Das aber freilich unter dem Titel „Fortpflanzung“, also mit der Fragestellung, wie man genügend stramme Kommunisten in die Welt setzt, die in Zukunft das irdische Paradies nach Plan errichten.

ARCHIV - Die SPD-Politikerin Käte Strobel stellt im August 1969 in Bad Wörishofen einer Schülerin den Sexualkunde-Atlas der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor. Der Atlas soll im Sexualkunde-Unterricht verwendet werden. 40 Jahre, nachdem die Kultusministerkonferenz mit ihren «Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen» das konservative Deutschland in helle Aufregung versetzte, erlebt der Streit einen zweiten Frühling. Foto: dpa (zu dpa-Korr. "Streit um Sexualkunde auch nach 40 Jahren virulent" vom 06.08.2009) - nur s/w - +++ dpa-Bildfunk +++
Gesundheitsministerin Käte Strobel 1969 mit einer offensichtlich leicht skeptischen Adressatin für den Atlas
Quelle: picture-alliance/ dpa

Im Westen war die Sachlage deutlich komplizierter. Sowohl das Christentum als auch der bürgerliche Moralkodex waren noch immer äußerst restriktiv. Speziell in der katholischen Lehre – und darin war sie der linksextremen Ideologie nicht unähnlich – galt es als Sünde, wenn Mann und Weib zu anderen Zwecken miteinander verkehrten, als Geschöpfe nach Gottes Ebenbild zu erschaffen; von gleichgeschlechtlichem Sex ganz zu schweigen.

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In der weltlichen Sphäre dagegen wirkte der Viktorianismus zumindest so weit nach, dass man den Trieb vielleicht nicht mehr für wegzivilisierbar hielt, aber doch die offizielle Übereinkunft herrschte, sich möglichst bis ins eheliche Schlafzimmer hinein zusammenzureißen. Das war natürlich eine Lüge, wie die Existenz zahlreicher Bordelle und Seitensprünge bewies.

Oswalt KOLLE, Deutschland, Journalist, Autor, Filmproduzent, im Bett mit Ehefrau, Frau Marlies und Sohn, Nesthaekchen Stefan; am 10.04.1968 in Campione/Italien; Querformat;
Oswalt Kolle (1928-2002) stellte mit seinen Filmen die rigide Sexualmoral der 1960er-Jahre auf die Probe
Quelle: picture-alliance / Sven Simon

Und um die Dinge für die Keuschheitsprediger von ziemlich schlecht zu richtig mies zu wenden, hatten erst die Rock-’n’-Roller der Jugend mit ihrem Hinterngewackel das Hirn breiig gemacht, und die Hippies faselten nun zum Entzücken des Nachwuchses etwas von „freier Liebe“ – und ein Mann namens Oswalt Kolle zerrte in seinen Filmen Dinge ans Licht, die zuvor im allertiefsten Dunkeln geblieben waren.

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Damit befand sich Käte Strobel – eine 61-Jährige, deren Stil sicher nicht auf sexuelle Wirkung aus war – in einer Position, um die sie bestimmt niemand beneidete. Wie sollte die Ministerin das Knäuel aus gesellschaftlichen Interessen, Deutungsansprüchen und vor allem sexuellen Energien entwirren?

Betrachtet man ihre Lösung, so entschied sie sich für den technokratischen Weg, der alle weltanschaulichen Probleme so gut ausklammerte, wie es eben ging. Zwölf Kapitel hat das Buch auf 48 Seiten, diese zeigten zumeist Zeichnungen der menschlichen Anatomie rund um die Gürtellinie. Unter den rund 12.000 Worten suchten die Leser den Begriff „Liebe“ vergeblich, was sofort wieder Kritik nach sich zog.

Oswalt Kolle: Liebe als Gesellschaftsspiel, Deutschland 1972, Regie: Werner M. Lenz, Szenenfoto
Ist das noch Aufkläung? Szene aus Oswalt Kolles "Liebe als Gesellschaftsspiel"
Quelle: picture alliance / United Archiv
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„Mich erinnert die Sprache dieses Sexualkundeatlas auf Schritt und Tritt an die Bedienungsanleitungen von Kühlschränken und Waschmaschinen“, gab der Konstanzer Psychologe Horst Rumpf zu Protokoll. Damit hatte er einen Punkt. Der eigentliche Geschlechtsakt wurde so knapp wie möglich dargestellt, die Textpassage im Kapitel „Befruchtung“ liest sich wie folgt: „Bei der geschlechtlichen Vereinigung (Geschlechtsakt, Beischlaf) führt der Mann sein versteiftes Glied in die Scheide der Frau ein und führt damit stoßartige Bewegungen aus.“

Das Baby, das danach entstand, hatte bei der Geburt „normalerweise“ 50 Zentimeter groß zu sein und 3200 Gramm zu wiegen. Dem Thema Abtreibung widmete sich der Atlas eher ökonomisch – infolge der 500.000 abgebrochenen Schwangerschaften jährlich, so hieß es, erkrankten 25.000 bis 30.000 Frauen „ernstlich“. Dies verursache einen „sehr hohen Kostenaufwand“ und ziehe den Ausfall von „rund drei Millionen Arbeitstagen“ nach sich.

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Gleichgeschlechtliche Liebe fand in dem Buch nicht statt, das eine Foto von einem Penis zeigte ein Exemplar, das von der Geschlechtskrankheit Syphilis befallen war. Äußerst kurz war das Thema Selbstbefriedigung gehalten. Über Jahrzehnte hatten vor allem Priester der Jugend erzählt, der Akt sei des Teufels und mache den Missetäter wahlweise verrückt, blind oder taub. Dem setzte der Atlas zwei Zeilen entgegen: „Auch die Selbstbefriedigung ist bei Jungen und Mädchen eine normale Entwicklungserscheinung.“

Eines ließ sich Käte Strobel damit nicht vorwerfen – nämlich, den Appetit der Jugend auf den Sex anheizen zu wollen. Kein Mensch, der auch nur einen Blick in das Buch wirft, käme auf die Idee, dass Geschlechtsverkehr etwas sein könnte, das im Entferntesten mit Spaß zu tun hat.

love and music - Love Festival, Germany, 1970
"Love and Music" – Festival in Deutschland im Jahr 1970
Quelle: picture alliance / United Archiv

Demgemäß fielen die Reaktionen aus. Befürworter einer Liberalisierung ging der Atlas nicht weit genug, Konservative hätten ihn dem Wohl der Jugend zuliebe am liebsten sofort wieder einstampfen lassen. Ihrer Ansicht nach enthielt das Werk trotz allem zu viele Bilder, die nicht für die Augen von Pubertierenden geeignet seien. Speziell die Darstellung der Geburt bemängelten sogar beide Seiten, die Passagen seien derartig drastisch, dass junge Frauen Angst vor der Niederkunft bekommen könnten.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) einigte sich darauf, dass es gut sei, überhaupt einen Leitfaden in die Hand bekommen zu haben, ob er nun verbesserungswürdig sei oder nicht. Das war auch die Haltung, mit der Gesundheitsministerin Käte Strobel das Buch verteidigte, als sich die Kultusministerkonferenz beschwerte, nicht mehr in die Entwicklung einbezogen worden zu sein.

Und Deutschlands Jugend von damals? Die hat den Sexualkundeatlas offenkundig ohne entscheidende Schäden überstanden. Was er geholfen hat oder nicht, lässt sich nicht abschließend beurteilen – schon weil im Oktober 1969 „Dr. Sommer“ in der „Bravo“ seine Arbeit aufnahm. Wenn es eine öffentliche Anlaufstelle für die Sorgen und Nöte von Pubertierenden gab, dann war es wohl diese Rubrik in einer Jugendzeitschrift – und nie das Klassenzimmer.

Dieser Artikel erschien erstmals im Juni 2021.

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