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  3. Der Despot von Genf: Die dunkle Seite des Johannes Calvin

Geschichte Johannes Calvin

Auf diesen Reformator berufen sich die Banken

Sein Hang zur Pünktlichkeit soll die Uhrenindustrie in Genf befördert, seine Prädestinationslehre den Kapitalismus begründet haben. Aber Calvin, der im Jahr 1564 starb, hatte auch dunkle Seiten.
„Vater des Kapitalismus“ oder „Vollender der Reformation“: Johannes Calvin (1509-1564) „Vater des Kapitalismus“ oder „Vollender der Reformation“: Johannes Calvin (1509-1564)
„Vater des Kapitalismus“ oder „Vollender der Reformation“: Johannes Calvin (1509-1564)
Quelle: picture-alliance/akg-images

Kein Theologe prägte das protestantische Christentum neben und nach Luther so tiefgreifend wie Johannes Calvin (1509-1564). Denn aus der Reformation entstand keine einheitliche evangelische Kirche: Neben den Lutheranern gibt es die reformierten Kirchen, die sich allerdings nicht nach ihrem bedeutendsten Reformator Calvin benannten. Der „französische Luther“ starb am 27. Mai 1564 im Alter von nur 54 Jahren in Genf.

Einigen Kirchenhistorikern gilt Calvin als „Vollender der Reformation“. Auf ihn berufen sich heute mehr als 80 Millionen reformierte Christen weltweit. Er kam am 10. Juli 1509 rund 100 Kilometer von Paris entfernt in Noyon zur Welt – acht Jahre vor dem bekannten Thesenanschlag Martin Luthers (1483-1546) gegen die Missstände der Kirche seiner Zeit. Mit Luthers Thesen entzündete sich die lange schwelende Reformation, die Europa dramatisch erneuerte und zur Gründung der evangelischen Kirchen führte.

Calvin, der Luther nie begegnete, gehört zur zweiten Welle dieser religiösen Revolution. Auch die moderne Demokratie, die Idee der Menschenrechte und die Ökumene wurden von ihm beeinflusst. In seiner berühmten Genfer Kirchenordnung, entwickelt Mitte des 16. Jahrhunderts, sehen viele ein Modell der späteren staatlichen Gewaltenteilung.

Er gehörte zur Bildungselite seiner Zeit. Der Sohn aus wohlhabendem Haus – sein Vater war bischöflicher Verwalter – erhielt eine klassische Erziehung und absolvierte ein humanistisches Studium. Zunächst treuer Katholik, fand Calvin über Freunde offenbar Zugang zu fortschrittlichen reformatorischen Ideen. Wohl Anfang der 30er-Jahre schloss er sich der Reformation an und bekannte sich offen zum evangelischen Glauben.

Die ewige Verdammnis ist vorbestimmt

Nach der Flucht aus Paris und Zwischenstationen in Basel und Straßburg kam Calvin 1541 endgültig nach Genf, um dort den Rest seines Lebens zu wirken. Er verwandelte die damalige Provinzstadt in ein intellektuelles Zentrum Europas und zog Gelehrte, Handwerker und Familien an, die vor der religiösen Verfolgung Schutz suchten.

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Damit trug der auf Gemälden stets hager und streng dargestellte Calvin zur wirtschaftlichen Dynamik dieser Region bei. Neben der Uhrenindustrie zeugt auch das Bankgewerbe bis heute davon. Calvins Lehre von der Vorherbestimmung (Prädestination), der zufolge am wirtschaftlichen und weltlichen Erfolg eines Menschen sein Ansehen bei Gott zu erkennen sei, gehört zu den schwierigsten und auch umstrittensten Lehren des Reformators. Calvin zufolge werden die Menschen von Gott nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen. Den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis zugeordnet, ohne dass sie darauf einen Einfluss haben.

Diese Deutung entfaltete eine große Wirkung, gestalteten doch viele Anhänger Calvins danach ihren Lebensweg. Nicht umsonst wurden Regionen, in denen seine Lehre dominierte, zu Zentren des Welthandels und der Industriellen Revolution: die Niederlande, Großbritannien, die USA. In der so verstandenen Prädestination erkannte der große Soziologe Max Weber (1864-1920) die Ursache für das protestantische Arbeitsethos und das Gewinnstreben im Kapitalismus, weshalb Calvin oft auch „Vater des Kapitalismus“ genannt wird.

Dem stellen Theologen Calvins Lehre von der Bedeutungslosigkeit des menschlichen Willens gegenüber der Allmacht Gottes entgegen. Oder sie argumentieren historisch: Calvin habe eine Theologie für religiöse Flüchtlinge entwickelt, die aus Frankreich nach Genf kamen, um dort Schutz zu finden. Die Lehre von der Erwählung sollte ihnen versichern, dass sie zur Gemeinde gehören würden, wenn sie im festen Glauben zu Christus stehen.

Despot von Genf

Es gab aber auch den dunklen Calvin. Wegen seiner Kompromisslosigkeit in Glaubensfragen galt er als „Despot aus Genf“. Besonders seine aktive Rolle bei der Anklage gegen den spanischen Humanisten und Arzt Miguel Servet belastet seinen Ruf bis heute schwer. Bereits ihre Korrespondenz über theologische Fragen hatte Calvin entrüstet mit den Worten beendet: „Sollte Servet einmal nach Genf kommen, würde er nicht lebendig weggehen.“

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Als der religiöse Querdenker auf der Flucht vor der Lyoner Inquisition schließlich in Genf Zuflucht suchte, wurde er von Calvin enttarnt und angeklagt. Der Prozess wegen Ketzerei und Gotteslästerung – obwohl außerhalb der Jurisdiktion des Gerichts begangen – endete mit dem Todesurteil, das am 27. Oktober 1553 auf dem Scheiterhaufen vollstreckt wurde.

Calvins Strenge gegen sich und andere wird gern mit den Schicksalsschlägen seines Lebens erklärt: Zunächst musste er aus seiner Heimat Frankreich fliehen, 1549 starb Calvins Frau, ein aus der Ehe stammender Sohn überlebte die Geburt nur kurz.

Die pralle Lebensfreude und -erfahrung Luthers ging Calvin ab. Auch seine Werke, allen voran „Institutio – Unterweisung in der christlichen Religion“ (1535) – zeichnen sich eher durch spröde Klarheit denn durch mitreißenden Duktus oder feierliche Liturgie aus. Im Mittelpunkt der reformierten Gottesdienste stehen die Predigt, das Gebet, der Psalmengesang und die biblische Lesung. Bis heute sind reformierte Kirchen sehr schlicht gehalten, gelten mehr als Versammlungs- und Gemeinschaftsräume, meist ohne Kruzifixe und Wandmalereien.

Streit über das Abendmahl

Calvins Lehre ist richtungsweisend für viele Kirchen der USA, Deutschlands, der Schweiz, der Niederlande sowie Schottlands. In Deutschland zählt die Evangelisch-reformierte Kirche mit Sitz im niedersächsischen Leer zu den kleineren der 20 Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), in der lutherische, reformierte und unierte Kirchentraditionen versammelt sind. Zu ihren 145 Gemeinden zwischen Ostfriesland und dem Allgäu gehören rund 183.500 Mitglieder.

Allerdings wurden im 19. Jahrhundert zahlreiche reformierte und lutherische Kirchen vereinigt, zumal in Preußen, dessen Königshaus dem reformierten Bekenntnis anhing. Diese Kirchenunion hat die Zeiten überdauert, obwohl ein Hauptstreitpunkt zwischen den Konfessionen offiziell erst vor wenigen Jahrzehnten beigelegt wurde.

Es geht um das Abendmahl. Lutheraner glauben, Jesus Christus ist „in, mit und unter Brot und Wein“ wirklich gegenwärtig, was dem katholischen Verständnis vom Abendmahl sehr nahe kommt. Reformierte Christen, die sich auf Calvin berufen, deuten Brot und Wein im Abendmahl dagegen als Zeichen, die Christi Heil bringende Gegenwart garantieren sollen, also im Grunde als gemeinschaftsstiftendes Ritual. Dass es darüber über Jahrhunderte hinweg zu Mord und Totschlag gekommen ist, gehört zu den Schattenseiten der Reformation.

Dieser Artikel wurde erstmals 2014 veröffentlicht.

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