Die russische Invasion in der Ukraine hat den Europäern erneut vor Augen geführt, dass die USA als Garant europäischer Sicherheit nach wie vor unentbehrlich sind. Seit Ende des Kalten Kriegs haben wir enorm von der „billigen“ Sicherheit, die die USA uns gewährt haben, profitiert. Die negativen Auswirkungen dieser „Friedensdividende“ auf die nationale Verteidigungsfähigkeit europäischer Staaten wurden ignoriert.
Jetzt, da die Bedrohung Europas keine ferne Fata Morgana mehr, sondern real ist, hat sich dies geändert. Weil Europa sicherheitspolitisch nicht so aufgestellt ist, wie es angesichts der Bedrohungslage sein müsste, ist der Beitrag der USA zur europäischen Sicherheit weiterhin entscheidend. Gleichzeitig wird jedoch immer deutlicher, dass das Engagement der Amerikaner in Europa nicht mehr selbstverständlich ist.
Um unser transatlantisches Bündnis am Leben zu halten, muss Europa mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit übernehmen. Dazu müssen wir Europäer unsere Zusagen über die nationalen Verteidigungsausgaben einhalten und die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Partnern verbessern.
Das Weimarer Dreieck, bestehend aus Polen, Frankreich und Deutschland, muss dem wachsenden Isolationismus entgegenwirken, der in der amerikanischen Innenpolitik verwurzelt ist und sich zunehmend auch im strategischen Denken der USA ausbreitet. Hierfür ist essenziell, dass wir die „Zeitenwende“, die sich sicherheitspolitisch überall in Europa abspielt, noch stärker mit konkreten Maßnahmen unterlegen und diese gegenüber unseren amerikanischen Partnern klar kommunizieren. Unsere Glaubwürdigkeit auf diesem Feld ist entscheidend, um ein Auseinanderbrechen der transatlantischen Partnerschaft und eine Bilateralisierung der Sicherheitszusammenarbeit zu verhindern.
Was heißt das konkret? Europa muss seine militärischen Fähigkeiten durch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben und eine Ausweitung der Rüstungsproduktion weiter verbessern. Das Zwei-Prozent-Ziel sollte nur als Mindestbeitrag – nicht als Obergrenze – für den europäischen Beitrag zur Sicherheit des Kontinents dienen. Gleichzeitig müssen wir eine langfristige Perspektive für die europäische Verteidigungsindustrie entwickeln.
Es braucht Zeit und Investitionen in Produktionskapazitäten, um nicht nur die Ukraine mit dringend benötigter Munition, Langstreckenraketen und Luftabwehrsystemen zu versorgen, sondern auch um unsere eigenen Bestände wieder aufzufüllen. Auch wenn die Unterstützung für Kiew jetzt diese Bemühungen antreibt, dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch in Zukunft ein deutlich stärkeres europäisches Engagement für unsere Sicherheit benötigen.
Den Kreml in die Schranken weisen
Das Bestreben des französischen Präsidenten Macron, strategische Ambiguität wiederherzustellen und den Kreml in die Schranken zu weisen, oder die Analyse des polnischen Premierministers Tusk wonach Europa sich in einer „Vorkriegszeit“ (pre-war times) befände, zeigen, dass Europa politisch so bereit für Veränderungen ist, wie seit 1989 nicht mehr.
Diese Bereitschaft ist auch ein Erfolg der USA, der es gelungen ist, die Europäer davon zu überzeugen, die eigene Sicherheit verstärkt selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Grundverständnis kann das transatlantische Bündnis beflügeln, vorausgesetzt, dass unsere strategischen Interessen eng verzahnt bleiben.
Frieden und Wohlstand und der Fortbestand der internationalen Ordnung hängen davon ab, dass Demokratien einander unterstützen und so eine klare Botschaft an revisionistische Regime senden. Auch im transatlantischen Kontext liegt der Schlüssel in dem Wort „Partnerschaft“.
Wir Europäer müssen unseren US-Kollegen beider politischen Lager gegenüber die Bedeutung einer abgestimmten Strategie verdeutlichen und klarstellen, dass europäische Versuche, unsere militärischen Fähigkeiten zu stärken, nicht darauf abzielen, die USA zu schwächen oder aus Europa zu verdrängen. Ganz im Gegenteil: Sie dienen dazu, die Kohärenz und Glaubwürdigkeit der Verbündeten bei der Bewältigung globaler Krisen und Konflikte zu stärken.
Bei unserem gemeinsamen Besuch im US-Kongress, kurz vor der Verabschiedung des neuen Ukraine-Hilfspakets, haben wir festgestellt, dass die bisher von Europa geleistete militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine in den USA teilweise unbemerkt bleiben. Zurückzuführen ist dies auf mangelnde strategische Kommunikation seitens der Europäer.
Die Realität ist: Europa tut bereits viel für die Ukraine und wir wissen, dass wir noch mehr tun müssen, um den Krieg wieder aus Europa zu vertreiben. Um das gegenüber unseren amerikanischen Partnern zu verdeutlichen, müssen wir Zeit und Ressourcen in die strategische Kommunikation mit den USA investieren.
Für uns ist klar, dass wir europäischen Parlamentarier mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den USA parteiübergreifend zusammenarbeiten müssen. Ein besonderer Schwerpunkt sollte dabei auf der parlamentarischen Diplomatie liegen. Viele in Europa haben es versäumt, grundsätzliche Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft seit dem Ende des Kalten Kriegs wahrzunehmen.
Diese haben die transatlantische Verbundenheit der jungen Generation amerikanischer Politikerinnen und Politiker zunehmend geschwächt. Aber um die transatlantische Allianz am Leben zu halten, reicht es nicht aus, nur mit den politischen Entscheidungsträgern zu kommunizieren. Wir müssen auch die öffentliche Diplomatie verstärken, um US-Bürgerinnen und Bürger - insbesondere die amerikanische Jugend - zu erreichen und neu für Europa zu gewinnen.
Die Zukunft des transatlantischen Bündnisses als Rückgrat der Nato und Sicherheitsgarantie für Europa hängt nicht nur von der innenpolitischen Debatte in Washington ab, bei der die Europäer nur Beobachter sind, sondern auch von uns selbst. Wir haben erkannt, dass die derzeitige Abhängigkeit Europas von den USA unhaltbar ist und wir unserer eigenen Verantwortung gerecht werden müssen, um ein Auseinanderbrechen des westlichen Staatenbündnisses zu verhindern.
Die Angriffe feindlicher Staaten zielen gleichermaßen auf die Werte und den Wohlstand der USA und Europas ab. Der schnelle, kontinuierliche Ausbau der unserer militärischen Fähigkeiten und eine bessere strategische Kommunikation mit unseren amerikanischen Partnern sind essenziell - sowohl für die langfristige Sicherheit der Ukraine als auch unsere eigene.
Norbert Röttgen (CDU) war bis 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Mit Natalia Pouzyreff (Frankreich) und Pawel Kowal (Polen) nahm er an der ersten Delegationsreise von Parlamentariern aus den Ländern des „Weimarer Dreiecks“ in die USA teil.