Eine Mehrheit der Deutschen ist gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine: 61 Prozent. Bei den Anhängern der russlandfreundlichen Parteien AfD und BSW beträgt der Anteil der Gegner 84 bzw. 85 Prozent, bei den traditionellen Volksparteien CDU und SPD sind es 52 bzw. 58, bei den bürgerlichen Parteien FDP und Grüne sind es nur 40 bzw. 37 Prozent.
Der Befund wirft Fragen auf. So fragt man sich, ob FDP und Grüne eine fast vergessene bürgerliche Tugend repräsentieren, nämlich: sich etwas zuzumuten. Inmitten des egoistischen Ohnemichl-Lärms dieser Tage – Keine Tesla-Fabrik in unserem Wald! Keine Windräder in unserem Dorf! Atomkraft, ja bitte, aber kein Endlager bei uns! Keine Steuer auf mein Dieselöl! Keine Stunde mehr als 35, und dabei keinen Cent weniger! Und eben: Genuss ohne Reue! Kein Risiko eingehen, um der Ukraine zu helfen! – ist die Haltung der Wähler der beiden Parteien der Besserverdienenden ein kleiner Lichtblick.
Darüber hinaus aber kann man sich fragen, ob Olaf Scholz nicht alles richtig macht. Das Volk will keinen Taurus liefern, der Kanzler liefert keinen Taurus. So geht Demokratie, oder etwa nicht? Wäre es nicht Verachtung der Volksherrschaft, wenn der Kanzler sich dem Willen der Verbündeten beugte und doch die Marschflugkörper lieferte?
Andererseits: Wo wird denn die Freiheit an vorderster Front verteidigt? Wo geht es ums Ganze, nicht um bloße Ärgernisse wie Maskenpflicht oder Genderstern, Wutbauern und Waldbesetzer? In der Ukraine. Der Hort der europäischen Reaktion ist heute der Kreml, und er agiert im Bunde mit den Systemgegnern aus China und dem Iran. Wird Wladimir Putin nicht in die Knie gezwungen, wird er weiter in Europa zündeln mit dem Ziel, das Zaren- und Sowjetimperium wiederherzustellen. So hieße sich der Volksmeinung hierzulande beugen, die Demokratie international verraten.
Das wussten ein Konrad Adenauer, der die Wiederbewaffnung gegen den Willen der Mehrheit der Westdeutschen durchboxte; ein Helmut Schmidt, der die atomare Nachrüstung der Nato forcierte, obwohl seine eigene Partei dagegen gestimmt hatte. Überhaupt stellt die Geschichte jenen politischen Führern ein gutes Zeugnis aus, die in entscheidenden Augenblicken das Mandat wahrnahmen, das ihnen die Wähler gegeben hatten: nämlich zu führen. Zwar ist von Alexandre Ledru-Rollin der Spruch überliefert: „Ich muss ihnen folgen, ich bin ihr Führer“; aber wer würde den Mann kennen, hätte er dieses Credo des Opportunisten nicht so elegant formuliert? Niemand.
Olaf Scholz muss aufpassen, dass er nicht in jenem Orkus verschwindet, in dem sich Politiker wiederfinden, die Ledru-Rollin zum Vorbild nehmen. Die Ukraine muss die Waffen bekommen, die sie braucht, um den Feind der Demokratie zu schlagen. Heute und auch morgen, wenn vielleicht ein US-Präsident Donald Trump nur dann bereit ist, Waffen zu liefern, wenn andere – die unmittelbar bedrohten Demokratien Europas – dafür bezahlen. Scholz muss klarmachen, dass Freiheit nicht ohne Zumutungen zu haben ist.