In protestantischen Gegenden Deutschlands galten Katholiken früher als verschlagen. Sie könnten sich, so raunte man, so oft danebenbenehmen, wie sie wollten, und holten sich bei der nächsten Beichte die Absolution, während sich die aufrichtigen „Evangelen“ ewig mit der eigenen Sündhaftigkeit quälten.
In Berlin hat nun eine Feldstudie dieses Vorurteil widerlegt. Da Diplomaten Immunität genießen, können sie im Verkehr so oft sündigen, wie sie wollen: Es geschieht ihnen nichts. Allerdings führt die Polizei darüber Buch. Und so kann man feststellen, welche Diplomaten besonders oft falsch parken, zu schnell fahren und so weiter. Die des Vatikans sind es nicht.
Wie die Nuntiatur stolz gegenüber der Website katholisch.de mitteilte, entfielen auf die drei Autos der Vertretung des Heiligen Stuhls im Jahr 2023 nur fünf Verkehrsverstöße. „Nur“ fünf. Also auf jedes Auto mehr als ein Verstoß. Es soll Bürger geben, selbst in Berlin, die jahrelang ohne einen einzigen Strafzettel auskommen. Aber sie genießen auch keine Immunität, die Furcht vor Strafe ist also höher. Gemessen an der Versuchung ist also die Verkehrssündenrate der Vatikandiplomaten moderat.
Solche Zahlen zeigen, wie hoch die Loyalität gegenüber abstrakten – hier staatlichen – Regeln und Institutionen ist. Wer sich auch ohne Strafandrohung an die Regeln hält, zeigt Respekt vor den Institutionen. Vor Jahren stellte der kanadische Anthropologe Joseph Henrich die These auf, dass dieser Respekt steigt, je schwächer die Bindung an die Großfamilie, die Sippe, den Clan ist. Klar: Wenn mich der Clan rächt, brauche ich die Polizei nicht. Henrich überprüfte seine These auch mithilfe eines Feldversuchs. Und zwar – jetzt kommt’s – anhand der Verkehrsverstöße der – ebenfalls immunen – Diplomaten bei den Vereinten Nationen in New York.
Das Ergebnis: Diplomaten aus Ländern mit eher schwachen Familienbindungen erhielten im Schnitt 2,5 Strafzettel pro Jahr; bei ihren Kollegen aus Ländern mit starken Sippenbindungen – gemessen etwa an der Häufigkeit der Ehe zwischen Cousin und Cousine – waren es 10 bis 20.
Es verwundert also nicht, dass in Berlin die Diplomaten Saudi-Arabiens und Iraks zu den schlimmsten Verkehrssündern gehören. Nicht ins Bild scheint zu passen, dass auch die Diplomaten der USA außergewöhnlich viele Strafzettel bekommen; da jedoch Amerikas Diplomatenkorps mehr als 200 Autos besitzt, taugen Verstöße „im oberen dreistelligen Bereich“ – also drei bis vier pro Auto – kaum zur Widerlegung von Henrichs These.
Einfluss einer „radikalen religiösen Sekte“
Wieso sind aber die großfamiliären Bindungen bei uns so schwach? Henrich führt das vor allem auf den Einfluss einer „radikalen religiösen Sekte“ zurück, die, um die Macht ihrer Institutionen gegenüber den Familien, Clans und Sippen zu vergrößern, vor Jahrhunderten schärfste Bannflüche gegen die früher auch in Europa übliche Ehe zwischen Cousin und Cousine erließ.
Er meint die katholische Kirche. Dass sie damit einen Prozess der Individualisierung in Gang setzte, die auch die Reformation und die moderne Religionsferne hervorbrachte, ist eine schöne Ironie der Geschichte; ob man die auch in der Nuntiatur goutiert, weiß ich nicht.