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Meinung Gebete in der Corona-Krise

Geborgenheit geht auch im Livestream

Rabbiner Jonah Sievers in der Synagoge Pestalozzistrasse. Rabbiner Jonah Sievers in der Synagoge Pestalozzistrasse.
Rabbiner Jonah Sievers in der Berliner Synagoge Pestalozzistrasse
Quelle: Marlene Gawrisch / WELT
Vor der Pandemie war der Berliner Rabbiner Jonah Sievers kein Freund davon, Gottesdienste am Computer schauen zu lassen. Mittlerweile hat er seine Meinung geändert - und will die Übertragung auch nach der Krise fortsetzen.

Weil in der Corona-Krise Gläubige nicht ohne Weiteres zum Gottesdienst können, bittet WELT AM SONNTAG an dieser Stelle Geistliche zu Wort. Der Autor dieser Woche ist Gemeinderabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

„Der Mensch soll sich so ansehen, als ob er selbst aus Ägypten gezogen wäre.“ So haben es Jüdinnen und Juden in aller Welt zu Beginn des Pessachfestes, das vergangene Woche zu Ende ging, am Sederabend in der Haggada gelesen. Es ist eigentlich etwas, das unsere emphatischen Fähigkeiten anspricht und sie ausbauen soll. Die Gabe, sich in andere hineinzufühlen und mitzufühlen, ist sicherlich eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften, ohne die eine solidarische Gesellschaft nicht möglich wäre. Etwas, das in dieser Zeit noch wichtiger denn je ist.

Ich war vor dieser Pandemie kein Freund davon, einen Gottesdienst parallel im Internet zu übertragen. Dies hatte mehrere Gründe: Zum einen sah ich es als eine Tätigkeit an, die nicht mit dem Geist des Schabbats zu vereinbaren ist, zum anderen fürchtete ich, dass Menschen lieber den Gottesdienst am Computer verfolgen würden, als in die Synagoge zu kommen. Auch war mir die Vorstellung skurril, dass ein nichts vergessendes Internet meine Auswahl an Themen irgendwie beschränken würde.

Die Idee, Gottesdienste im Internet zu übertragen ist nicht neu. Viele liberale und auch manch konservative Gemeinde im angelsächsischen Raum machen dies schon längst auch regelmäßig. Auch gab es vereinzelte Anfragen von Kranken, Älteren oder jenen, die nicht mehr in Berlin leben, ob wir nicht unsere Gottesdienste im Netz übertragen könnten. Es waren derer nicht viele und so war es einfach, die Anfrage zur Seite zu drängen.

Doch dann überraschte und lähmte uns plötzlich dieser neuartige Virus. Seitdem scheint es, als wären wir alle – ob wir es wollten oder nicht – auf einmal alt, krank oder in eine andere Stadt verzogen. Die Regelungen zur Eindämmung der Pandemie machte uns dazu. Sie zwingen uns zum Abstandhalten und nehmen uns die Freiheit, uns so zu bewegen, wie wir es gewohnt waren. So war und ist auf einmal auch ein Besuch der Synagoge nicht mehr möglich. Aber gerade in diesen schwierigen Zeiten, sehnen sich viele, vielleicht noch mehr als sonst, nach diesem bekannten Gefühl der Geborgenheit des Schabbatgottesdienstes.

Also habe ich mich kurzerhand entschlossen, doch die Gottesdienste im Netz zu übertragen, einmal noch mit Beterinnen und Betern, jetzt – auch zu den Feiertagen – vor einer leeren Synagoge. Die Resonanz war für mich überraschend positiv. Wir haben alle gelernt, was dieses Gefühl bedeutet, nicht zur Synagoge kommen zu können, nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil es einfach nicht möglich ist. Es ist mein Plan, dass es diese Übertragungen auch in der Zukunft weiter geben wird. Keiner wird deshalb weniger in die Synagoge gehen, davon bin ich überzeugt, denn dieses Gefühl des physischen Zusammenseins, kann man eben doch nur bedingt über das Internet spüren. Doch können dadurch all diejenigen in Zukunft unterstützt werden, die den Gang zur Synagoge nur beschwerlich leisten können.

Es ist es meine Hoffnung, dass wir in dieser schweren Zeit mit genug Empathie ausgestattet sein werden, sodass wir als Synagoge, als Gemeinde und als Gesellschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgehen werden.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: WELT AM SONNTAG

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