Meinung

Ein langjähriger Fußball-Fan fragt sich: Sollte man die Fußball-WM 2022 in Katar boykottieren?

Seit 20. November 2022 läuft die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar – vermutlich das umstrittenste Turnier aller Zeiten. Kann man die WM 2022 überhaupt schauen?
Katar
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Fußball-WM 2022 in Katar: Eine VOGUE-Redakteurin stellt sich als Fußball-Fan die Frage, ob man das Turnier überhaupt schauen kann

Ein Donnerstagabend im November 2022. Ich sitze sprachlos vor dem Fernseher. Gerade habe ich mir im ZDF die Dokumentation "Geheimsache Katar" von Sportjournalist Jochen Breyer und Autorin Julia Friedrichs angeschaut. Schon im Vorfeld geisterten diverse Ausschnitte daraus durch meinen Feed und die Stories bei Instagram. Ich hätte also vorgewarnt sein sollen.

Doch mit eigenen Ohren zu hören, wie Frauen von den Verantwortlichen vor Ort mit unverpackten oder eben geöffneten Süßigkeiten verglichen werden und Homosexualität als "geistiger Schaden" bezeichnet wird, war dann doch noch einmal ein harter Realitätscheck. 

Und so geht es mir wie Schauspieler Matthias Brandt, der am Ende der ZDF-Dokumentation auf die Frage von Jochen Breyer, ob er die Fußball-WM 2022 in Katar jetzt eigentlich schauen werde oder nicht, mit resigniertem Seufzen und Schulterzucken reagiert und antwortet: "Die Frage habe ich befürchtet… keine Ahnung!"

Kann man als Fußball-Fan die WM in Katar überhaupt anschauen?

Seit klein auf bin ich großer Fußball-Fan. Zwar gehörten in unserer Familie Stadionbesuche eher der Seltenheit an, doch Samstagabend "Sportschau" war mit Papa immer Pflichtprogramm. Noch allzu lebhaft habe ich die euphorische Stimmung der WM 2006 in Deutschland vor Augen. Das Sommermärchen erlebten wir mit zahlreichen Nachbar:innen bei gemeinsamen Grillabenden in Hofeinfahrten oder auf Terrassen und schrieen uns zusammen die Kehle aus dem Hals. 

Und noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an die Menschenmassen in den Straßen denke, die frenetisch den Meistertitel des VfB Stuttgart in meiner schwäbischen Heimatstadt feierten. Fußball war und ist für mich stets ein Symbol für Gemeinschaft und Zusammenhalt. Fußball ist universell. Fußball überwindet Grenzen. Fußball interessiert sich nicht für Herkunft, Status oder Bildung. Er ist landes-, religions- und sprachenübergreifend. 

Umso schwerwiegender fühlt es sich an, wenn das Gastgeberland des größten Fußball-Events der Welt Menschen diskriminiert und ausgrenzt. Und dabei habe ich als heterosexuelle Cis-Frau das Privileg, nicht einmal fürchten zu müssen, aufgrund meiner sexuellen Orientierung vor Ort verhaftet zu werden – oder noch Schlimmeres. Wie soll die Liebe zum Sport gefeiert werden können, wenn die Liebe in all ihren wunderbaren Facetten unterdrückt wird?

Zugegeben, Homophobie im Fußball ist nicht erst seit Katar ein Thema. Bislang hatten nur wenige Fußballer ein öffentliches Coming-out. Als erster aktiver Profifußballer machte der englische Spieler Jake Daniels im Frühjahr dieses Jahres seine Homosexualität öffentlich. In Deutschland ist Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger wohl das berühmteste Beispiel. Sein Coming-out erfolgte jedoch erst nach dem Ende seiner Karriere. Die WM in Katar kritisiert er in einem Interview mit Zeit.de sehr. Er spüre nach wie vor die große Leidenschaft für das Spiel, aber "die Umstände, unter denen diese WM stattfindet, sind skandalös, das gab es in dieser Form noch nie. Katar hat sich für rund 200 Milliarden Euro das Recht gekauft, vier Wochen Bilder zu senden, die nicht die Lebenswirklichkeit dort widerspiegeln. Es geht dem Land nicht um den Sport, sondern darum, etwas darzustellen, was die Welt sehen möchte, was man aber nicht ist. Dafür mussten sehr viele ausländische Arbeiter sterben, dafür wurden und werden Menschen misshandelt und unterdrückt."

Fußball-Fans, denen der Sport und die Botschaften dahinter etwas bedeuten, sollte es also ein grundlegendes Anliegen sein, die WM in Katar zu boykottieren. Als Zeichen, dass die politischen und menschenrechtlichen Rahmenbedingungen vor Ort nicht zu tolerieren sind. Und doch ist da diese ganz leise Stimme weit hinten in meinem Kopf, die sich auf den sportlichen Wettkampf freut. Die gerne mitfiebern würde, wenn Deutschland in der Gruppenphase gegen Spanien antritt. Die für Torwart Manuel Neuer beim Elfmeterschießen die Daumen drücken möchte. Die Mario Götze und Jamal Musiala beim Dribbling durch den gegnerischen Strafraum anfeuern will. Oder die sich mit anderen Fans gemeinsam über ein gewonnenes Spiel freuen möchte.

Eine WM im Winter mit klimatisierten Stadien?

Dabei stellt sich natürlich noch die Frage: Würde – wenn rein theoretisch die Probleme in Sachen Menschenrechte in Katar gelöst wären – während einer Winter-WM in der Wüste überhaupt dieselbe Stimmung aufkommen wie bei bisherigen Turnieren im Sommer? Public Viewing mit Glühwein und Wintermantel während in Zeiten von Klima- und Energiekrise die WM-Stadien in Katar künstlich heruntergekühlt werden müssen? Schwer vorstellbar. 

Und so ließ auch Nationaltorhüterin und ARD-Expertin Almuth Schult in einem Interview mit Tagesschau.de auf die Frage, ob sie in WM-Stimmung sei, verlauten: "Schwierig. Ich bin sehr zwiegespalten. […] Aber schon die Jahreszeit ist untypisch für eine WM – und die politischen Rahmenbedingungen im Gastgeberland Katar kommen erschwerend hinzu." 

Von den aktiven Spielern, die an der WM teilnehmen, haben sich bislang nur wenige öffentlich kritisch zu Katar geäußert. Auch der Deutsche Fußball-Bund hat sich diplomatisch bedeckt gehalten. Bei der Anreise in die Golfregion zum finalen Testspiel gegen Oman setzt die Mannschaft rund um Trainer Hansi Flick zumindest ein optisches Zeichen: Den Flieger zierten der Slogan "Diversity Wins" ("Diversität siegt") sowie Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben. Die Nationalmannschaft von Australien hingegen hat ein Statement veröffentlicht, indem sie die Ausbeutung der Wanderarbeiter beim Stadionbau scharf verurteilt und eine Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe fordert. Ein Antrag der dänischen Fußball-Nationalmannschaft, in Katar Trainingsshirts mit der Aufschrift "Human Rights for All" (zu Deutsch: "Menschenrechte für alle") tragen zu dürfen, wurde seitens der FIFA abgelehnt. 

Und auch die Armbinde mit dem Slogan "One Love", welche die Kapitäne der Mannschaften aus Deutschland, England, den Niederlanden, Belgien, Schweiz, Wales, Frankreich und Dänemark bei den Spielen vor Ort in Katar tragen wollten, wurde von der FIFA mit harten Sanktionen belegt, so dass sich die Verbände dazu entschlossen, auf diese zu verzichten. In einer gemeinsamen Stellungnahme dazu heißt es: "Wir waren bereit gewesen, Strafen zu zahlen, was normalerweise bei Verstößen gegen Kleider-Regularien der Fall wäre. Dennoch konnten wir unsere Spieler nicht in eine Situation bringen, in der sie eine Gelbe Karte bekommen könnten oder gar gezwungen werden, das Spielfeld zu verlassen.""

Politische Statements jedweder Art sind laut FIFA auf dem Fußballplatz generell verboten. Im Fall von Katar hat das Verbot jedoch einen besonders bitteren Beigeschmack. Auch, weil die WM-Vergabe an den Golfstaat durch die FIFA nicht unvoreingenommen stattgefunden haben soll – wenn man den anhaltenden Korruptionsvorwürfen rund um den Weltfussballverband Glauben schenken mag. Neben der oben angesprochenen ZDF-Doku hat auch die Netflix-Serie "FIFA Uncovered" einige erschreckende Hintergründe aufgedeckt.

Guido Tognoni, ein ehemaliger FIFA-Funktionär und Berater von Ex-FIFA-Präsident Sepp Blatter, sagt bereits in der ersten Folge der mehrteiligen Doku-Serie: "Der normale Fan will Fußball sehen, er will bei der WM dabei sein. Er will seine Helden gegen die Ronaldos und Messis spielen sehen. Die Querelen innerhalb der FIFA sind ihm egal. Er weiß, die FIFA ist korrupt, und er hat es satt. Die Frage ist daher: Warum sollte den normalen Fan Bestechung im Sport kümmern?" Die Antwort Tognonis: "Wir sollten uns kümmern, weil der Sport der Welt immer noch die Illusion vermittelt, er sei etwas Schönes, etwas Faires, etwas Unterhaltsames, etwas Sauberes. Das ist er nicht, aber die Illusion besteht weiterhin. Bekämpfen wir Korruption im Sport nicht, brauchen wir sie gar nicht zu bekämpfen."

Das heißt doch aber im Umkehrschluss: Bekämpfen wir Diskriminierung im Sport nicht, brauchen wir sie gar nicht zu bekämpfen. Bekämpfen wir Gewalt und Missbrauch im Sport nicht, brauchen wir sie gar nicht zu bekämpfen. Es geht also darum, mit dem Boykott der WM in Katar ein starkes Signal zu setzen. Eines, das weit über den Sport und den Fußballplatz hinausgeht.

Meine Entscheidung ist daher gefallen: Die Fußball-WM in Katar werde ich nicht schauen. Schweren Herzens. Meine Fußball-Vorfreude spare ich mir lieber auf: für die Rückrunde der Bundesliga, die K.o.-Spiele der Champions League – und die Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Mit der Hoffnung, dass sich bis dahin im weltweiten Sport noch einiges hin zum Besseren verändern wird. Denn ehrlicherweise ist die WM in Katar ja nicht die erste sportliche Großveranstaltung, bei der die Menschenrechts-Situation vor Ort angeprangert hätte werden müssen. Nur: Die Untätigkeit der Vergangenheit rechtfertigt keinesfalls die Untätigkeit der Gegenwart – oder gar die der Zukunft. Der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Speziellen hat viele Chancen verpasst, sich eindeutig zu positionieren. Umso wichtiger ist es, jetzt ein deutliches Zeichen zu setzen. 

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