Gesellschaft

Die Corona-Krise trifft Frauen international am härtesten — das sind die traurigen Gründe

Was die Sterberate männlicher Patienten betrifft, stellt das Coronavirus für Männer eine besondere Bedrohung dar. Aber hinter verschlossenen Türen sind viele Frauen und Mädchen weltweit mit Herausforderungen konfrontiert, die auch lange nach der Zeit der Isolation noch andauern werden – darunter höhere Fallzahlen von häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung, eingeschränkter Zugang zu Verhütungsmitteln und Armut.
A woman watches a rally near Capitol Square in Virginia America on Wednesday April 22 2020
A woman watches a rally near Capitol Square in Virginia, America, on Wednesday April 22, 2020Photography Tom Williams/Getty Images

Corona & Frauen: Die besonderen Auswirkungen auf ihr Leben

Khin Lay ist Leiterin der Triangle Women’s Support Group, einer NGO, die sich in Rangoon in Myanmar für Frauenrechte einsetzt und mit Themen wie Fortpflanzungsmedizin, Elternschaft, Kinderpsychologie, Menschenhandel, sexueller und geschlechtsspezifische Gewalt und digitaler Bildung befasst. Seit Mitte März eine teilweise Ausgangssperre über das Land verhängt wurde, um die Ausbreitung des Coronavirus einzuschränken, habe ihre Gruppe weniger Nachrichten von Frauen erhalten, die physische oder emotionale Unterstützung bei Misshandlungsfällen zu Hause benötigen, sagt Lay.

“Unsere Zahlen sinken”, erklärt sie VOGUE. “Aber das bedeutet nicht, dass das Problem der häuslichen Gewalt sich verbessere.” Tatsächlich vermutet sie, dass es sich sogar verschlimmere. Lay ist besorgt, dass die Ausgangssperre dafür sorge, dass Frauen schlechter Hilfe suchen können, da die meisten ihre Wohnungen nicht verlassen können. Es kann sogar sein, dass sie nicht ausreichend Privatsphäre für einen sicheren Anruf haben — wenn sie denn überhaupt ein Telefon besitzen.

Was hinter den Zahlen steckt

Weltweit wird berichtet, dass Covid-19 eine besondere Bedrohung für Männer darstelle, da mehr Männer als Frauen an der Viruserkrankung sterben. Auf Grundlage der vorhandenen Zahlen stimmt das auch. “The New York Times" berichtete, dass einer Analyse des römischen Istituto Superiore di Sanità zufolge in Italien acht Prozent der männlichen Corona-Patienten sterben, verglichen mit fünf Prozent der weiblichen. Mitte April verwiesen Statistiken des New York Department of Health darauf, dass 60 Prozent der Corona-Toten des amerikanischen Bundesstaats Männer seien.

Stranded women wearing a face masks in Nepal waiting for a local government managed bus back to their villages, April 2020Photography SOPA/Getty Images

Diese Schlagzeilen sind allerdings irreführend, wenn sie andeuten sollen, dass das Virus für Männer schlimmer sei als für Frauen. Zum einen gibt es zahlreiche Gründe dafür, zu glauben, dass die Todeszahlen höher liegen als angegeben. Zum anderen ist der Tod nicht der einzige Maßstab der Auswirkungen des Virus. Clare Wenham, Dozentin für Weltgesundheitspolitik an der London School of Economics, formuliert es so: “Die Menschen werden so sehr von der Sterberate geblendet, dass sie den Rest der Geschichte nicht wahrnehmen.”

Die gesamte Welt wird sich durch Covid-19 für immer verändern, aber Frauen stehen durch das Virus signifikanten Herausforderungen gegenüber — Herausforderungen, die noch lange über die Zeit der Isolation hinausreichen werden. Wenham, die die Langzeitfolgen des Ebola- und des Zika-Virus erforscht hat, und kürzlich eine Analyse des Covid-19-Ausbruchs im Hinblick auf die Geschlechter begonnen hat, sagt, dass die Auswirkungen einer Epidemie weit über den Tod hinausreichen und sich über Jahre erstrecken können.

Die langfristigen Folgen von Corona (auf Frauen)

Obwohl die Studie sich noch im Anfangsstadium befindet, sagt Wenham, dass sich viele Trends bereits deutlich abzeichnen würden. Da ist als erstes ein starker weltweiter Anstieg von häuslicher Gewalt, bei dem Frauen knapp 80 Prozent der Opfer ausmachen. Die gemeinnützige in Peking angesiedelte Organisation Equality, die Gewalt gegen Frauen bekämpft, verzeichnete seit Anfang Februar, als dort die Ausgangssperren verhängt wurden, eine Zunahme an Anrufen bei ihrer Notrufnummer. In Spanien meldeten sich in den ersten zwei Wochen der Ausgangssperre 18 Prozent mehr Menschen unter der Notrufnummer für häusliche Gewalt als im gleichen Zeitraum einen Monat zuvor. Die Hilfsorganisation Refuge aus Großbritannien berichtete von einer 120-prozentigen Zunahme der Anrufe bei ihrer Helpline von einem Tag auf den anderen.

“Eine Reaktion, die Menschen oft auf Angstgefühle und Hilflosigkeit haben, ist, diese an ihrem Partner/ihrer Partnerin auszulassen und über diese eine Form von Kontrolle auszuüben, die sie in der Welt so nicht haben”, sagt Jacqueline Olds, Psychiaterin in Massachusetts, USA. Kindesmissbrauch — dem größtenteils Mädchen zum Opfer fallen — nimmt ebenfalls zu, so zeigt der Bericht über einen Anstieg in Texas. Die Zeit nach der Ausgangssperre in China weist einen steilen Anstieg der Scheidungsrate auf, ein Trend, der sich wohl auch in anderen Ländern zeigen wird. Das ist auch deshalb von Bedeutung, da Frauen bei Scheidungen meist die größere Last tragen, darunter ein durchschnittliches Absinken des Einkommens um 20 Prozent, wenn die Ehe zerbricht; die Armutsrate für geschiedene Frauen ist fast dreimal so hoch wie die für Männer.

A women wearing a mask as part of precautionary measures against the spread of the COVID-19 on April 15, 2020 in Beijing, ChinaPhotography Fred Lee/Getty Images

In Regionen, wo die Armutsrate ohnehin schon hoch ist, zeigt sich das Problem noch dramatischer. “In weniger entwickelten Teilen der Welt bedeutet Quarantäne nicht Netflix schauen und Brotbacken”, sagt Maggie Doyne, CEO und Mitbegründerin der BlinkNow Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die eine Schule und ein Kinderheim in Surkhet in Nepal betreibt. “Es geht ums nackte Überleben. Wie kriege ich ein bisschen trockenen Reis und Bohnen? Wie ernähre ich meine Kinder? Und für Frauen in von Misshandlung geprägten Umständen: Wie kann ich zu Hause sicher sein? In Südasien und Nepal ist Suizid bereits die häufigste Todesursache bei Frauen. Viele Frauen fühlten sich schon vorher hoffnungslos und isoliert.”

Obwohl es auch Unterstützung seitens der Regierung gebe, so Doyne, würden viele davon nichts abkriegen. “Ich habe verwitwete Frauen mit mehreren Kindern gesehen, die in kleinen gemieteten Hütten leben und nicht die Bedingungen für staatliche Unterstützung erfüllen.”

Die Beschäftigungsrate von Frauen erhält einen weiteren Dämpfer

Weltweit ist es für viele Frauen während der Corona-Krise schwieriger, Arbeit zu bekommen, bzw. zunehmend gefährlicher, dieser nachzugehen. Wenham verweist darauf, dass Frauen weltweit 70 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen ausmachen, womit sie einem größeren Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind und infolge davon eher aus Krankheitsgründen nicht zur Arbeit können. Frauen leisten ebenfalls weltweit einen Großteil der niedrig- oder unbezahlten Pflegetätigkeiten — Hausarbeit, Kinderbetreuung, Bedienung in Restaurants — von diesen Frauen verdienen jetzt viele noch weniger oder gar nichts mehr.

Das trifft nicht nur auf Länder wie Großbritannien zu, wo eine Studie feststellte, dass Frauen finanziell am schwersten getroffen werden. Es gilt auch für Länder wie Nepal, wo, wie Doyne erklärt, Frauen und Kinder einen Großteil der Tagelöhner stellen, von denen jetzt die meisten ohne Arbeit bleiben. Später könnten Jobs für Frauen, die während der Corona-Krise weggefallen sind, auch schwerer wieder aufzunehmen sein. “Unsere Forschung zu Ebola zeigt einen klaren Trend, dass Männer fast nahtlos ihre Arbeit wieder aufgreifen konnten, aber Frauen erst wesentlich später oder überhaupt nicht”, sagt Wenham.

A woman selling face masks in the empty narrow alleys of Kathmandu, Nepal, April 12 2020Photography NurPhoto/Getty Images

Dazu komme, wie Francesca Jones, die Geschäftsführerin von Dress for Success Rome, erklärt, dass es für die Frauen, die schon vor Covid-19 auf Arbeitssuche waren, nun praktisch unmöglich geworden sei, einen Job zu finden. “Wir lassen viele unserer Workshops und Trainings online stattfinden, aber das hilft nur den Frauen, die einen Internetzugang haben”, sagt Jones. “Wir haben nur begrenzte Mittel. Wir erhalten weniger Kleider- und Geldspenden, und viele der Frauen sehen keine glückliche Zukunft vor sich.” Selbst die, die Arbeit haben, leiden: Ein Gesetz, das Firmen in Großbritannien dazu verpflichtet, Ungleichheiten bei geschlechtsspezifischer Bezahlung zu melden wurde für die Zeit der Corona-Krise ausgesetzt.

Gender-Stereotypen reichen tief

Frauen übernehmen zu Hause mehr Verantwortung. Eine Frau aus der Triangle-Gruppe, die zwei Kinder im Alter von vier und elf Jahren hat, kümmert sich auch noch um ihren 92-jährigen Vater. “Obwohl viele von uns von zu Hause aus arbeiten und Geld verdienen können, haben wir weitaus mehr Verpflichtungen als Männer”, sagt sie. “[Manche] Männer machen, was sie wollen, gehen dahin, wo sie wollen, und kommen dann nach Hause und fragen ‘Was gibt’s zum Abendessen?’ Obwohl wir mental stark sind, ist es schwer, all das im Gleichgewicht zu halten und unmöglich Zeit für sich selber zu finden.”

Schulschließungen betreffen sowohl Jungen als auch Mädchen, aber Mädchen — so ist es die Regel, besonders in Entwicklungsländern — sind stärker auf Ausbildung angewiesen, um ein für den Lebensunterhalt ausreichendes Gehalt zu verdienen. “In einigen der wohlhabenderen Regionen in Afrika gibt es Online-Unterricht”, sagt Thandeka Tutu-Gxashe, die Vorsitzende der südafrikanischen Desmond Tutu Tutudesk Campaign, die Kinder im südlichen Afrika mit tragbaren Schultischen versorgt. “Aber das passiert definitiv nicht an allen Schulen. Nicht jedes Kind hat Zugang zu einem Laptop. In vielen Gegenden gibt es noch nicht mal WLAN.”

A Nepalese woman with her child rushes for a local government managed bus back to her village, Nepal, April 2020SOPA/Getty Images

Wenham räumt ein, dass einige Regierungen versuchen, Frauen zu schützen. Großbritannien hat Einschränkungen zur ‘Pille danach’ gestrichen, während Nordirland Abtreibungen legalisiert hat. (In vielen Ländern hat die Pandemie es allerdings noch erschwert bereits existierende Hürden zur Empfängnisverhütung zu überwinden, so berichtet die International Planned Parenthood Federation von einem weltweiten Mangel an Verhütungsmitteln und Schließungen der meisten dauerhaften und mobilen Kliniken.) In Frankreich hat eine Ende März gestartete Regierungsinitiative, die von einer ähnlichen in Spanien inspiriert wurde, das Code-Wort ‘Maske 19’ für Frauen in Missbrauchs-Situationen eingeführt, die dieses in der Apotheke benutzen können, wenn sie nicht frei reden können. Im Libanon hat sich die Organisation ABAAD, die Frauenhäuser im ganzen Land betreibt, mit der Regierung zusammengetan und verteilt nun Sets mit essentiellen Haushaltsgegenständen, Broschüren zur Unterstützung von Familien und anderen Hilfsmöglichkeiten.

Aber stärkere Hilfe von Regierungsseite ist notwendig und wird es in den folgenden Wochen und Monaten immer mehr werden. Besonders zumal, wie Tutu-Gxashe aufzeigt, diese Probleme nicht nur reine Frauenprobleme sind. “In Südafrika und auf dem ganzen afrikanischen Kontinent, in so vielen Teilen der Welt, halten die Frauen alles zusammen”, sagt sie. “Frauen sind daran gewöhnt, sich zu kümmern und werden in der Pflege auch gebraucht. Sie sind die Zahnräder, die die Familien und die Länder am Laufen halten. Weil sie so stark sind, weiß ich, dass sie es da raus schaffen werden, tretend, schreiend, schiebend und ziehend, indem sie alles tun, was nötig ist, damit das Leben weitergeht. Aber ihr Leben, unser Leben, wird definitiv nicht leichter durch dieses Virus.”

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