Mehr­generationen­wohnen Mehr als nur Nach­barn – ein Fall­beispiel

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In generationen­über­greifenden Projekten leben Jung und Alt zusammen – und jeder bringt sich ein, von der Planung bis zum Zusammenleben. Anhand des Generationen-Wohn­projekts „Sredzki 44“ zeigen wir, wie das funk­tioniert und welche Probleme es gibt.

Sredzki 44: „Eine tolle Gruppe“

Ursa Götze ist über­zeugt: „Jung und Alt unter einem Dach – das schafft eine besondere Lebens­qualität für alle.“ Die 90-Jährige lebt gemein­sam mit 20 anderen Bewohnern im Generationen-Wohn­projekt Sredzki 44 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Ihren Geburts­tag hat sie dieses Jahr im Gemein­schafts­raum des Hauses gefeiert – zusammen mit ihrer Tochter, Freunden und der Sredzki-Haus­gemeinschaft. Götze: „Das ist schon eine tolle Gruppe. Ich weiß, dass ich hier jeden Tag bei den anderen Bewohnern klingeln kann. Alle sind füreinander da.“

Unser Rat

Bewerbung.
Interes­sieren Sie sich für Mehr­generationen-Wohn­projekte, sollten Sie sich früh auf die Suche nach einer passenden Haus­gemeinschaft begeben. Die Projekte haben oft lange Wartelisten. Bewerber müssen sich in der Regel mehreren Bewohnern vorstellen. Wer auf professionelle Hilfe wie einen Pflege­dienst angewiesen ist, sollte sich erkundigen, was das Wohn­projekt in dieser Hinsicht bieten kann.
Finanzierung.
Wollen Sie selbst ein Wohn­projekt auf die Beine stellen, sollten Sie sich zunächst um die Finanzierung bemühen. Die Wohn­projekte können etwa als Genossenschaft oder Eigentümer­gemeinschaft angelegt werden. In eine Genossenschaft zahlen Interes­senten eine Einlage ein, die ihnen bei Beendigung des Miet­verhält­nisses ausgezahlt wird. Oft empfiehlt es sich, in eine schon bestehende Genossenschaft einzutreten.
Netz­werke.
Mehr zu Wohn­projekten bieten das Forum Gemeinschaftliches Wohnen und das Wohnprojekte-Portal der Stiftung Trias.

Veranstaltungs­raum als Wohn­zimmer

In dem Mehr­generationen­haus bewohnt jede Partei eine eigene, abge­schlossene Wohn­einheit. Im Erdgeschoss des Hauses liegt ein Informations­zentrum mit Muster­wohnung und Veranstaltungs­raum, der gleich­zeitig als Wohn­zimmer für alle dient. Auch der Hof wird gemeinschaftlich genutzt. Muster­wohnungen wie in diesem Haus findet man heut­zutage in vielen Städten in Deutsch­land. Interes­sierte können sich dort über das alters­gerechte, gemeinschaftliche und generationen­verbindende Wohnen informieren.

Gesell­schaftliche Teilhabe und soziale Kontakte

Daniela Herr, die mit Tochter Agnes (9) im Sredzki-Haus wohnt, leitet das Informations­zentrum: „Das Haus bietet Raum für ein selbst­bestimmtes Leben, aber gleich­zeitig für gesell­schaftliche Teilhabe und soziale Kontakte. Das ist für uns ein gemeinschaftliches Wohnen, das so in einer Groß­stadt wie Berlin sonst nicht möglich wäre.“

Hundert Jahre altes Haus saniert

Für das Projekt hatte die bereits existierende Berliner Mietergenossenschaft Selbstbau e. G. einen Erbpacht­vertrag mit der städtischen Gesell­schaft Gewobag AG geschlossen. Der Gewobag AG gehören Grund und Boden, die Selbst­bau e. G. darf das Grund­stück nutzen. Im Vertrag ist eine Lauf­zeit von 99 Jahren vorgesehen. Mit Förderung des Bundes­familien­ministeriums hat die Genossenschaft das hundert Jahre alte, unter Ensembleschutz stehende Wohn­haus vor ein paar Jahren kernsaniert. Wegen seines maroden baulichen Zustands war es nicht mehr zeitgemäß bewohn­bar.

Elf Wohnungen für Menschen aller Alters­gruppen

Daniela Herr, heute Genossin und Mieterin, wohnte hier schon früher: „Es gab hier vorher keinen Aufzug, dafür aber noch Kohle­öfen. Und die Toiletten waren draußen installiert. Da musste sich etwas ändern.“ Nach gut zwei Jahren Sanierung und Ausbau sind in dem Objekt Anfang 2017 elf Wohnungen für Menschen aller Alters­gruppen, mit und ohne Behin­derung, entstanden.

Barrierefreiheit im Sredzki-Haus

Drei der elf Wohnungen sind barrierefrei, die anderen fast alle barrierearm. So gibt es zum Beispiel eine Sitz­bank im Bad und leicht bedien­bare Armaturen. Alles erscheint über­raschend modern. Gemein­sam achten die Sredzki-Bewohner darauf, dass die voll­ständig barrierefreien Wohnungen ausschließ­lich an Menschen mit körperlichen Einschränkungen vermietet werden. Herr: „Als eine der behindertengerechten Wohnungen frei wurde, haben wir das direkt dem Paritätischen Wohl­fahrts­verband mitgeteilt. Die haben uns einige Bewerber mit Handicap vermittelt.“ Wer letzt­lich einziehen durfte, haben die Bewohner gemein­sam entschieden. Und die Genossenschaft, die das letzte Wort bei solchen Entscheidungen hat, hat zuge­stimmt.

Bewohner von 3 bis 90 Jahren

Einen Pflege­dienst gibt es in dem Haus bisher nicht. „Das ist noch in der Entwick­lung“, so Herr. „Wenn es so weit ist, werden wir auch über einen Notruf entscheiden – zusammen mit allen Bewohnern.“ Obwohl die Alters­spanne der Bewohner von 3 bis 90 Jahre reicht, ist ein Pflege­dienst bisher nicht notwendig.

Toleranz ist die Grund­lage

Auch Ursa Götze, die älteste Bewohnerin, ist noch rüstig. „Wenn man älter wird, benötigt man die baulichen Voraus­setzungen dafür und ein soziales Umfeld. Beides ist hier vorhanden“, sagt Daniela Herr und ergänzt: „Grund­lage für ein funk­tionierendes Zusammenleben ist Toleranz. Zu der Toleranz gehört, dass Engagement immer freiwil­lig ist.“

Junge helfen Alten

So begleiten die jungen Nach­barn Rentnerin Götze etwa bei Behördengängen oder stützen sie bei Spaziergängen im Winter, wenn Schnee auf den Straßen liegt. Ein Nach­bar kümmert sich regel­mäßig um den Aufzug. Und die Bewohner mit grünem Daumen haben eine Garten-AG gegründet und pflegen zusammen die Grünflächen im Gemein­schafts­hof. Unterstüt­zung von der Garten-AG soll im Mai 2019 auch Herrs Tochter Agnes erhalten. Für zwei Kanin­chen, die sie aus dem Berliner Tierheim holen wird, will sie einen Stall im Gemein­schafts­hof bauen.

Entscheidungen gemein­sam treffen

Entscheidungen werden im Wohn­projekt demokratisch getroffen. Zweimal im Jahr findet eine Besprechung für Themen statt, die über die Monate wichtig geworden sind. Für brisante Dinge wird kurz­fristig ein Termin angesetzt. Herr: „Bei internen Angelegenheiten hat jeder Bewohner des Hauses eine Stimme. Ist auch die Genossenschaft betroffen, wie bei einer Neuvermietung, bekommt jede Wohn­einheit eine Stimme.“ Dann beraten die Bewohner darüber, welchen Bewerber sie der Genossenschaft empfehlen.

Finanzierung des Wohn­projekts

Einlage. Als es um die Sanierung des Gebäudes ging, war für die damaligen Mieter klar: Allein stemmen können sie die Kosten von 2,5 Millionen Euro nicht. Sie entschieden sich daher, in die bestehende Berliner Mietergenossenschaft Selbst­bau e. G. einzutreten. Das Konzept: Jeder Genosse zahlt eine Einlage ein, die die Bewohner zurück­erhalten, sollten sie irgend­wann ausziehen. Daniela Herr hat für ihre 59-Quadrat­meter-Wohnung zum Beispiel eine Einlage von 14 000 Euro bezahlt.

Vorteil. Winfried Härtel, Projekt­entwickler bei CoHousing Berlin, empfiehlt diese Finanzierungs­variante: „Eine neue Genossenschaft zu gründen, bedeutet für den Einzelnen oftmals enorm viel Eigen­kapital. Eine Bank gibt einem als Darlehen selten mehr als 75 Prozent der fertigen Kosten.“ Die Kredit­anstalt für Wieder­aufbau fördert solche Projekte zwar und steuerte 50 000 Euro bei. „Es bietet sich aber meist an, in eine bestehende Genossenschaft einzutreten, bei der schon ein Verbund mit anderen Häusern besteht.“

Nachteil. Eine Kehr­seite gebe es: Die Bewohner müssen einige Mitspracherechte abgeben. Im Fall von Sredzki 44 bedeutet das: Manchmal muss erst einmal die Genossenschaft zustimmen, bevor die Bewohner ein Vorhaben verwirk­lichen können.

Miet­preis unter Mietspiegel

Es gibt auch Alternativen, ein solches Projekt zu stemmen: Wohnungs­eigentümer­gemeinschaften, bei denen jeder Bewohner Eigentum erwirbt, und das Miet­wohnen, bei dem kommunale oder auch private Investoren Vermieter sein können. Renate Kaye, Bewohnerin des Sredzki-Hauses, weiß die Genossenschaft zu schätzen: „Durch diese sind die Miet­preise, die wir zahlen, deutlich unter dem Mietspiegel. Und die Miete bleibt stabil.“

Wohn­projekte finden, Mitstreiter suchen

Wer sich für ein Generationen-Wohn­projekt interes­siert, kann sich auch einer schon bestehenden Projekt­initiative anschließen. Wie viele solcher Projekte es in Deutsch­land gibt, lässt sich nicht genau bestimmen, da es keine einheitliche Definition gibt. Beim Wohnprojekteportal der Stiftung Trias in Hattingen (Ruhr), dem führenden Portal für Gemeinschaftliches Wohnen in Deutsch­land, sind aktuell mehr als 700 realisierte Wohn­projekte gelistet (siehe „Unser Rat“ oben). Das Forum Gemeinschaftliches Wohnen e. V. geht von 4 000 bis 5 000 deutsch­land­weit aus. Dessen Referentin Andrea Beerli rät Interes­sierten, auf der Website des Forums oder der Stiftung Trias ein Gesuch aufzugeben und gleich­zeitig bei Projekten anzu­rufen, die noch in der Realisierungs­phase sind. „In bereits realisierte Projekte zu gelangen, kann sehr schwierig werden, weil dort eine geringe Fluktuation herrscht. Wer sich einmal für so ein Wohn­projekt entschieden hat, steigt nicht so schnell wieder aus.“

Bei der Gemeinde anfragen

Auch bei der Gemeinde anzu­fragen, könne sich lohnen. „In einigen Kommunen gibt es Anlauf­stellen, bei denen Interes­sierte erfahren können, wer noch Mitstreiter sucht.“

Jeder trägt Verantwortung

Auch Björn Schreiber ist froh, Teil der Sredzki-Gemeinschaft zu sein. Zweimal im Jahr findet ein Fest im Haus statt. Die Bewohner besuchen sich gegen­seitig. Ist jemand im Urlaub, kümmern sie sich um dessen Pflanzen und den Brief­kasten. Perfekte Idylle? Schreiber: „Natürlich gibt es auch bei uns Meinungs­verschiedenheiten.“ Aber die würden ausdiskutiert, bis man eine Lösung gefunden habe. Schreibers Fazit: „Für mich ist das Mehr­generationen­haus gelebte Solidarität.“

Ratgeber der Stiftung Warentest

Mehr­generationen­wohnen - Mehr als nur Nach­barn – ein Fall­beispiel

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