Petr Pavel
interview

Tschechischer Präsident Pavel "Im Juni die ersten 180.000 Stück Munition"

Stand: 08.05.2024 12:01 Uhr

Tschechiens Präsident Pavel überraschte mit seiner Munitionsinitiative die Unterstützer der Ukraine. Im ARD-Interview erklärt er, wann welche auf dem Weltmarkt beschaffte Munition eintreffen soll - und zieht Parallelen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.

ARD: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnt davor, dass die militärische Lage in der Ukraine immer schwieriger wird. Wie lange kann die Ukraine in diesem Krieg noch durchhalten?

Petr Pavel: Die Ukraine beweist große Widerstandsfähigkeit, denn seit Beginn des Konflikts ist sie mit außerordentlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Russland ist zweifellos erheblich stärker als die Ukraine.

Der Westen unterstützt das Land technisch und finanziell, aber wir kommen dahin, dass die Humanressourcen und auch die Unterstützung in der ukrainischen Bevölkerung zunehmend die begrenzenden Faktoren sein werden.

In dieser Situation - und dafür plädiere ich seit Langem - ist es unerlässlich, die Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen, damit sie dem russischen Aggressor klarmachen kann, dass es keinen Sinn hat, den Krieg fortzusetzen; dass Russland militärisch keine weiteren Erfolge erzielen wird. Denn solange Russland noch eine Hoffnung auf Erfolg hat, solange gibt es für Russland keinen Grund für Friedensgespräche.

"Fünf- bis sechsstellige Zahl von Granaten"

ARD: Die tschechische Munitionsinitiative hat in Europa für erhebliches Aufsehen gesorgt. In Deutschland war von "tschechischen Granaten" oder gar von "Pavel-Granaten" die Rede. Wann werden die ersten dieser Granaten in der Ukraine eintreffen? Und warum dauert es so lange?

Pavel: Je mehr Seiten von der Initiative wissen, desto mehr Konkurrenz entsteht. Es war einerseits notwendig, die Initiative öffentlich zu machen, um so die Unterstützung anderer Länder zu bekommen, aber andererseits haben wir damit auch unsere Karten aufgedeckt, was Russland jetzt natürlich ausnutzt. Auch deshalb kommt die Initiative nicht so schnell voran, wie wir es uns gewünscht hätten.

Ich gehe mit unserem Ministerpräsidenten Petr Fiala davon aus, dass im Juni die ersten etwa 180.000 Stück Munition geliefert werden, und es gibt bereits Verträge für eine weitere fünf- bis sechsstellige Zahl von Granaten.

ARD: Diese Käufe müssen bezahlt werden. Und es scheint, dass die Finanzierung noch nicht komplett geklärt ist. Hat ein Teil des Westens schon die Hoffnung auf den Sieg der Ukraine verloren?

Pavel: Ich würde nicht sagen, dass er die Hoffnung verloren hat, aber während des gesamten Krieges in der Ukraine betreibt der Westen seine Unterstützung mit sehr großer Vorsicht. Dahinter steht von Anfang an das Bemühen, den Konflikt nicht zu eskalieren.

Über jede neue Stufe gab es lange Debatten, bevor schließlich doch geliefert wurde. Hätten wir diese Zeit der Überlegungen und der Risikoabwägung übersprungen, dann hätte die Ukraine diese Hilfe Monate, vielleicht sogar Jahre früher erhalten und die Lage könnte anders aussehen.

Wir sollten aus der Vergangenheit lernen und jetzt die Hilfe in größtmöglichem Umfang und so schnell wie möglich leisten, um zu verhindern, dass die Ukraine weitere Gebiete und Menschenleben verliert.

"Wie sehr sich doch alle geirrt haben!"

ARD: Tschechien begeht am 8. Mai den Jahrestag des Kriegsendes und des Sieges über den Nationalsozialismus. Inwieweit hat der russische Angriffskrieg diesen Tag verändert?

Pavel: Wir sollten uns daran erinnern, wie Kriege entstehen, denn es gibt viele Parallelen zwischen den Ursprüngen des Zweiten Weltkriegs und dem Konflikt in der Ukraine. Wenn wir das Beispiel der damaligen Tschechoslowakei betrachten, so diente die deutsche Minderheit in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei als Vorwand für den Einmarsch Hitlers. Im Falle Russlands und der Ukraine war es die russischsprachige Minderheit im östlichen Donbass.

Und genauso wie unlängst mit Russland, so haben wir uns auch damals bei Hitler nicht eingestehen wollen, dass Hitler tatsächlich einen Krieg von solch einem Ausmaß beginnen könnte. Die westlichen Verbündeten der Tschechoslowakei glaubten damals, durch Zugeständnisse an Hitler den Frieden retten zu können. Und wie sehr sich doch alle geirrt haben!

Auch heute neigen viele dazu, zu sagen: 'Lasst uns Putin nachgeben, wir überlassen ihm ein Stück der Ukraine, und der Krieg ist vorbei und es wird Frieden herrschen.' Vielleicht sollten wir auf die Geschichte schauen und daraus für heute lernen.

ARD: Viele der jüngeren mittel-osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten nehmen, so wie Tschechien, gegenüber der russischen Aggression eine viel entschiedenere Haltung ein als Länder, deren EU-Mitgliedschaft schon länger dauert. Ist das ein Moment der europäischen Emanzipation für die östlichen EU-Staaten?

Pavel: Bis zu einem gewissen Grad ja, denn die mittel- und osteuropäischen Länder haben direkte Erfahrungen mit der Sowjetunion und Russland. Und die sind nicht sonderlich positiv. Die meisten westlichen Länder haben dagegen nur mittelbare Erfahrungen - sie neigen dazu, Russland als einen normalen europäischen Staat zu sehen.

Dabei bezeichnet sich Russland selbst als euro-asiatische Zivilisation. Die russischen Wertvorstellungen sind völlig anders als die unseren. Deshalb wäre es sehr naiv, sich Russland aus einer Position des Zugeständnisses zu nähern, aus einer Position, in der man versucht, eine beiderseits vorteilhafte Lösung zu erreichen. Russland kennt bis heute nur "gewonnen" und "verloren".

Mit anderen Worten: Wenn Russland Erfolg haben soll, müssen die anderen verlieren. Und das sollte uns eine Warnung sein.

Das Gespräch führte Danko Handrick, Korrespondent im ARD-Studio Prag