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Rente, Steuern, Erbe: Deutsche verstehen amtliche Schreiben nicht


Tagesanbruch
Damit dürfen sie nicht durchkommen


Aktualisiert am 12.06.2024Lesedauer: 5 Min.
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Kann schnell frustrieren: Behördenschreiben sind oft unverständlich formuliert. Das hat auch Folgen für das Vertrauen in demokratische Institutionen.Vergrößern des Bildes
Kann schnell frustrieren: Behördenschreiben sind oft unverständlich formuliert. Das hat auch Folgen für das Vertrauen in demokratische Institutionen. (Quelle: Damir Khabirov/getty-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

wann hatten Sie zuletzt ein amtliches Schreiben in der Hand? Die jährliche Renteninformation zum Beispiel oder den jüngsten Steuerbescheid? Und wenn Sie mal ganz ehrlich sind: Wie viel von dem, was darin stand, haben Sie auf Anhieb verstanden?

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Falls Sie jetzt zerknirscht zugeben müssen, dass das womöglich nicht ganz so viel war, ist das kein Grund, sich zu schämen. Denn damit sind Sie nicht allein: In einer repräsentativen Studie der Finanzplattform Taxfix und der Sprachexperten von Wortliga geben drei von vier Deutschen an, dass sie Behördendeutsch nicht verstehen.

Nur einer von fünf Deutschen begreift demnach ein amtliches Schreiben im ersten Anlauf. Mehr als zwei Drittel der Befragten antworten, dass sie Briefe mehrmals lesen müssen. Und fast die Hälfte der befragten Personen muss sich dabei von einer anderen Person helfen lassen. Ein alarmierendes Ergebnis.

Denn wer bei Begriffen wie "Progressionsvorbehalt", "Bemessungsgrundlage" und "Grenzsteuersatz" nur Bahnhof versteht, ist nicht nur frustriert und überfordert – was für sich genommen schon schlimm genug ist. Er bekommt mitunter auch ernsthafte Probleme.

Jeder dritte Befragte hat bereits Geld verloren, weil er ein Behördenschreiben nicht richtig verstanden hatte und ihm daraufhin Leistungen gekürzt oder Strafen auferlegt wurden. 41 Prozent mussten wegen eines Missverständnisses schon einmal Mahngebühren zahlen. Und: Knapp jeder vierte Deutsche macht seine Steuererklärung erst gar nicht, weil er die schwierige Sprache nicht versteht. Damit schenkt er dem Staat im Schnitt 1.095 Euro – ein unverdienter Dank dafür, dass der sich nicht klar genug ausgedrückt hat.

Behördendeutsch macht fast jeden ratlos

Interessant ist auch: Behördendeutsch ist für fast alle Bürger Kauderwelsch. Egal, woher die Menschen kommen, wie viel sie verdienen, welchen Bildungsstand, welches Alter oder Geschlecht sie haben. So haben sich beispielsweise 48 Prozent der Befragten mit mittlerem Schulabschluss schon einmal helfen lassen, um Behördenbriefe zu verstehen. Bei den Bachelor-Absolventen waren es 55 Prozent. Bürgernähe sieht anders aus.

Auch ich musste kürzlich mehrmals nachlesen, als mir eine – auch so ein hinreißender Name "Verfügung von Todes wegen" eröffnet wurde. Nun sind mir Begriffe wie "Pflichtteil", "Grundpfandrechte" und "Auflassungsansprüche" zwar geläufig, ich bin aber auch Finanzredakteurin und habe schon mal den ein oder anderen Ratgeber über Erbrecht geschrieben. Das darf jedoch nicht der Maßstab sein. Und bei zwölfzeiligen Schachtelsätzen voller Einschübe bin selbst ich raus. Dass die Mitarbeiter im Amtsgericht den Erbvertrag obendrein noch so schlecht kopiert haben, dass die Wörter am rechten Rand abgeschnitten waren und ich mir den letzten Willen zusammenrätseln durfte, war da noch das kleinere Übel.

Balanceakt zwischen Verständlichkeit und Präzision

Was hinter den schwer verständlichen Formulierungen steckt, ist klar: Die Schreiben müssen rechtssicher sein. So schilderte mir kürzlich eine Mitarbeiterin der Deutschen Rentenversicherung, wie schwierig es sei, Rentenbescheide kürzer und einfacher zu halten, ohne dass dann geklagt werde, weil Informationen fehlten. Am Ende wuchs der gestraffte Bescheid doch wieder auf die doppelte Dicke an.

Trotzdem gilt: Auch wenn das Rechtssystem in vielen Fällen keine einfach verständliche Formulierung zulässt, sollten die Behörden mit dieser Ausrede nicht durchkommen. Denn: "Erklärungen von Beamtendeutsch sind immer erlaubt", sagt Wortliga-Gründer Gidon Wagner. Für den sperrig klingenden Progressionsvorbehalt könnte das zum Beispiel so aussehen:

  • Ihr Krankengeld aus der gesetzlichen Krankenversicherung ist steuerfrei, unterliegt aber dem sogenannten Progressionsvorbehalt. Was ist der Progressionsvorbehalt? Der Progressionsvorbehalt bezeichnet das Phänomen, dass Einkünfte wie Krankengeld, die eigentlich steuerfrei sind, trotzdem dazu führen können, dass Sie mehr Steuern zahlen müssen. Denn das Krankengeld und Ihr normales steuerpflichtiges Einkommen werden zusammengerechnet. Für dieses Gesamteinkommen wird dann Ihr Steuersatz ermittelt. Dieser höhere Steuersatz wird aber nicht auf das Krankengeld angewendet, sondern nur auf das steuerpflichtige Einkommen. Das Krankengeld bleibt also steuerfrei, führt aber dazu, dass das übrige Einkommen etwas höher besteuert wird. Sie zahlen mehr Steuern.

Um es noch verständlicher zu machen, könnte das Finanzamt eine Beispielrechnung folgen lassen, die den Unterschied mit und ohne Progressionsvorbehalt zeigt.

Ja, das ist zusätzlicher Aufwand. Ja, viele Behörden sind personell am Limit. Doch die Zeit und Mühe wären gut investiert. Die Frustration über staatliche Institutionen ist schließlich groß genug. Da sollte man jede Möglichkeit nutzen, das Vertrauen wieder aufzubauen. Eine Hilfe kann dabei auch Künstliche Intelligenz sein – natürlich immer überprüft von fachkundigen Menschen. Für die wiederum braucht es Schulungen und Checklisten. "Verständlich zu schreiben, ist schwer", sagt Wagner, "man muss es üben."

Auch die Gesetze müssen verständlicher werden

Aber auch der Gesetzgeber ist in der Pflicht: So berichtet der Sprachexperte von einem Kunden aus einer großen Bank, die Probleme damit habe, ihre Verträge zu vereinfachen, weil darin bestimmte Textbausteine aus den Gesetzen stehen müssen. Und wenn die nicht verständlich sind, sind es die Verträge eben auch nicht. Selbst einige Europawahlprogramme der Parteien waren nach Ansicht von Wortliga "schwerer verständlich als so manche Banken-AGB". Immerhin: Vereinzelt habe es Lichtblicke gegeben. So veröffentlichte zum Beispiel die SPD eine Zusammenfassung ihres Programms in einfacher Sprache.

Von solchen Initiativen braucht es noch viel mehr. Helfen dürfte auch ein neues EU-Gesetz, das ab Juni 2025 in Deutschland und Europa gilt und viele Unternehmen verpflichtet, verständlich zu kommunizieren. Sein Name: "Barrierefreiheitsstärkungsgesetz". Nun ja.


Was steht an?

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Ohrenschmaus

Wenn Ihnen nicht nur Behördendeutsch, sondern auch dieser Song Spanisch vorkommt, dann ist zumindest Letzteres so gewollt.


Das historische Bild

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Zum Schluss

Ob es ihn auch so vom Plastiksitz reißt wie damals Angela Merkel?

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und EM-vorfreudigen Mittwoch. Morgen schreibt wieder Florian Harms für Sie.

Herzliche Grüße

Christine Holthoff
Redakteurin Finanzen
X: @c_holthoff

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Mit Material von dpa.

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