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Muslimischer Judenhass in Deutschland immer problematischer – Experte warnt


Judenhass in Deutschland
"Dann laufen wir Gefahr, dass viele Muslime abdriften"

InterviewVon Mauritius Kloft

Aktualisiert am 09.07.2024Lesedauer: 6 Min.
Interview
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Eine islamistische Demo (Symbolbild): Arye Shalicar warnt vor muslimischen Parallelgesellschaften.Vergrößern des Bildes
Eine islamistische Demo (Symbolbild): Arye Shalicar warnt vor muslimischen Parallelgesellschaften. (Quelle: Markus Matzel)

2023 gab es so viele Antisemitismus-Fälle in Deutschland wie nie seit Gründung der Bundesrepublik. Der Publizist Arye Shalicar richtet jetzt eine deutliche Warnung an die deutsche Gesellschaft.

Vor neun Monaten, am 7. Oktober 2023, hat die islamistische Terrorgruppe Hamas Israel überfallen: Sie schießt Tausende Raketen auf Israel, dringt mit Hunderten Kämpfern auf israelisches Gebiet ein – und tötet rund 1.200 Jüdinnen und Juden. Daraufhin startet die israelische Regierung einen Verteidigungskrieg auf Gaza, auch um die Geiseln aus den Händen der Hamas zu befreien. 120 befinden sich laut israelischer Schätzung noch in der Gewalt der Entführer, viele dürften aber nicht mehr am Leben sein.

Seit dem Hamas-Angriff steigt auch in Deutschland der Judenhass. Die Antisemitismus-Meldestelle Rias registrierte 4.782 Fälle im vergangenen Jahr, einen Gutteil davon nach dem 7. Oktober.

Einer, der selbst Judenhass erlebt und deswegen sogar Deutschland verlassen hat, ist der deutsch-israelische Publizist und Politologe Arye Shalicar. Neben rechtsextremem Judenhass sieht er vor allem muslimischen Antisemitismus als großes Problem in Deutschland – und warnt vor Parallelgesellschaften.

t-online: Herr Shalicar, laut Rias gab es im vergangenen Jahr hierzulande knapp 5.000 Fälle von Judenhass. Haben die Deutschen eigentlich nichts gelernt?

Arye Shalicar: Das frage ich mich auch. Zumal die Zahl nur einen Bruchteil darstellt.

Sie gehen also von mehr Fällen aus?

Definitiv. Die Dunkelziffer ist viel höher. Ich schätze, dass die knapp 5.000 gemeldeten Fälle etwa zehn Prozent ausmachen. Viele Juden in Deutschland leben in täglicher Angst. Wenn sie jeden Vorfall melden würden, kämen sie zu nichts anderem mehr. Dabei kommt der Antisemitismus oft aus der muslimischen Ecke.

Warum?

Ob in Afghanistan, Syrien oder im Jemen: Leider bekommen viele Muslime von klein auf mit dem Schlagstock des Vaters und der Muttermilch der Mutter Judenhass beigebracht.

Das klingt überspitzt.

Ein wenig, ja. Doch die Realität ist nun mal: Judenhass ist sehr verbreitet in der muslimischen Welt. Das bestätigt auch jeder Experte. Auch ich habe in meiner Jugend tausendfach Judenhass erfahren.

Weshalb Sie nach Israel ausgewandert sind.

Richtig. Wäre ich damals in Berlin in Spandau geblieben und nicht in den Wedding gezogen, wäre ich sicher nicht ausgewandert. Die Realität war damals eine andere.

Wie sah die aus?

In der Grundschule in Spandau hatten von 23 Kindern sieben einen Migrationshintergrund – es gab einen Türken, einen Kurden, ich war der Perser und so weiter. Eine deutsche Mehrheit hat die Minderheit von Migranten sehr gut integrieren können. Im Wedding sah es anders aus: Von 30 Kindern waren 29 Muslime. Das ist nicht Multikulti, sondern nur eine einzige Kultur. Deshalb habe ich mich nicht mehr mit Deutschland vertragen. Ich habe das Land nicht mehr erkannt.

Gehört der Islam denn zu Deutschland?

Ja. Alle Religionen, alle Hautfarben, gehören zu Deutschland. Ich selbst habe einige muslimische Freunde, die nichts mit dieser gewaltbereiten, islamistischen Form des Islam zu tun haben wollen. Die perfekt integriert sind.

Aber?

Es liegt sehr viel vor uns. Neben den Integrierten gibt es auf der anderen Seite Muslime, die komplett abgedriftet sind. Die neben Juden auch Kurden oder moderate Muslime angreifen. Und dann gibt es viele in der Mitte, die zwischen den Stühlen sitzen. Die oft enttäuscht sind von der deutschen Politik, die sich ausgeschlossen fühlen. Die gesamte deutsche Gesellschaft ist gefragt, um sie abzuholen. Es ist eine Art Tauziehen zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich attraktiv machen muss, und den Extremen.

Und wenn nicht?

Dann laufen wir Gefahr, dass viele Muslime abdriften. Schon jetzt muss man sich auf deutschen Straßen als Jude vor jungen, gewaltbereiten Muslimen sorgen. Diese gewaltbereiten Männer treffen auf die Plattform "Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg". Deutschland hat sein Versprechen, Juden zu schützen, noch nie ernsthaft durchgehalten.

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(Quelle: Uwe Steinert/imago-images-bilder)

Zur Person

Arye Sharuz Shalicar, geboren 1977, ist ein deutsch-israelischer Politologe, Publizist und Autor persisch-jüdischer Herkunft. Er war von 2009 bis 2017 Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF). Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war er als Reservist bis zum 1. Mai 2024 erneut als IDF-Sprecher tätig. Sein bekanntestes Buch ist "Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude", in dem er über seine Jugend in Berlin erzählt. Es wurde 2021 verfilmt.

Das ist ein schwerer Vorwurf.

Es hat sich ein neuer linker Judenhass breitgemacht. Das kam seit den 1968ern auf, als von der sogenannten Israelkritik geredet wurde: Jeder Jude muss sich für die Politik in Israel rechtfertigen. Wie wäre die Welt, wenn es zum Beispiel 17 jüdische Staaten gäbe? Auf einen einzigen jüdischen Staat wird jedoch alles projiziert. Der Chef dieses Staates, Benjamin Netanjahu, ist der Über-Jude, der alles duldet. Diese linke Denke ist hochproblematisch, weil sie wesentlich zum Antisemitismus beiträgt. Immer heißt es, Israel sei der Böse, die Palästinenser seien der Underdog, der vermeintlich Schwache. Doch das stimmt nicht.

Antisemitismus in Deutschland

Laut dem Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) gab es 2023 insgesamt 4.782 dokumentierte Vorfälle von Judenhass in Deutschland. Sieben davon waren extreme Gewalt. Dazu zählen Brandanschläge auf das Haus einer Familie im Ruhrgebiet. Hinzu kamen 121 Angriffe, 329 gezielte Sachbeschädigungen, 183 Bedrohungen. 4.060 Vorfälle betrafen indes "verletzendes Verhalten", etwa antisemitische Parolen oder Transparente. Besonders sogenannter "anti-israelischer Aktivismus" stieg laut Rias an, von 6 Prozent aller Fälle im Jahr 2022 auf 12 Prozent im vergangenen Jahr. Der Anteil rechtsextremen Judenhasses fiel derweil von 15 auf 9 Prozent, obwohl die absoluten Fälle stiegen.

Wieso?

Weil wir nicht gegen die Hamas allein kämpfen. Israel muss sich mit fünf Terrorgruppen auf einmal beschäftigen, die Juden auslöschen wollen: mit der Hisbollah im Libanon zum Beispiel, dem Islamischen Dschihad oder den Huthis. Dazu kommen Staaten, die diese Terrormilizen fördern, allen voran der Iran. Im Nahen Osten steht Israel jedoch nicht allein da. Gemeinsam mit arabisch-muslimischen Verbündeten, zu denen unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Bahrain und Jordanien gehören, kämpfen wir gegen die Unterwerfungsversuche des Mullah-Regimes.

Eine Unterstellung aus dem linken Spektrum ist, dass Israel eine Kolonialmacht sei, die die Palästinenser unterdrücke. Können Sie das nachvollziehen?

Nein, der Vorwurf ist komplett absurd. Wenn Juden angeblich in dem Land, in dem Juden seit Tausenden von Jahren leben, Kolonialmacht seien, muss man sich fragen: Wo sollen wir denn dann hin? Wo wollt ihr uns denn haben? Auch den Spruch "From the River to the sea" …

… übersetzt: vom Fluss bis zum Meer …

… kann man in keiner Weise tolerieren. Jeder, der das ruft, will keinen Frieden, sondern eine Ein-Staaten-Lösung. Einen Staat, in dem kein einziger Jude Platz hat.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Ihr Vater habe Ihnen damals gesagt: Du bist ein Jude und die ganze Welt hasst dich. Ist das wirklich so?

Ja, zumindest im christlich-muslimischen Raum könnte man den Eindruck bekommen: Juden werden von allen gehasst. Hier gibt es jahrhundertealte Verschwörungserzählungen, alle möglichen Varianten von Judenhass. In Asien ist Judenhass ein viel kleineres Thema. Antisemitismus ist dort ein Fremdwort. Hier aber hat man Angst vor dem Juden: Mal ist der Jude dreckig, mal steckt er hinter allen Medien. Antisemitische Erzählungen sind die erfolgreichste Verschwörungstheorie der Welt. Es gibt jedoch einen großen Einwand dabei.

Und zwar?

Juden sitzen in Deutschland nicht im Chefsessel: Im Vorstand von Siemens, der Lufthansa oder als Minister in der Regierung sitzt kein Jude. Dass Juden alles beherrschen, ist eine kranke Ansicht. Eine neue Erzählung seit dem 7. Oktober ist, dass Israel Kinder tötet. Das basiert auf der alten Mär, Juden tränken das Blut von Kindern. Das ist völliger Blödsinn.

Konstruiert wird das aus dem Vorwurf, der der israelischen Regierung gemacht wird: Im Gaza-Krieg sind viele Zivilisten, auch Kinder, umgekommen.

Jeder tote Zivilist ist furchtbar, ich finde das ebenfalls schrecklich. Doch: Die Schuld dafür trägt die Hamas, die sich feige hinter den Zivilisten versteckt. Und: Dieselben Leute, die die israelische Regierung kritisieren wollen, marschieren in Deutschland vor Synagogen auf. Dieselben Leute sind still, wenn Muslime in Syrien, im Sudan oder sonst wo ermordet werden. Ihnen geht es nicht um Muslime. Ihnen geht es nur um den Hass auf Juden.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kritisiert ebenfalls regelmäßig die Regierung von Netanjahu.

Baerbock interessiert in Israel niemanden. Mich interessiert aber, was sie sagt. Und ehrlich gesagt: Baerbock redet das, was Politiker reden.

Das müssen Sie erklären.

Alles wird relativiert: Die einen sind böse – die anderen sind böse. Das kann sie zwar sagen. Aber: Deutschland hat sich den Schutz der Juden zur Staatsräson gemacht. Dann erwarte ich auch eine andere Haltung von Frau Baerbock. Die Betroffenheit ist kurzzeitig groß – im Zweifel geht es aber Baerbock doch nur um die Palästinenser. Mit einem 'Aber' macht man alles zunichte.

Wie fühlen Sie sich denn heute, neun Monate nach dem Terrorangriff der Hamas?

Es gibt in Israel auf der einen Seite einen Kriegsalltag, auf der anderen Seite eine Art Parallelwelt. Hier versuchen wir so normal wie möglich zu leben. Der Kriegsalltag ist ätzend. Glauben Sie mir: Ich bin kein Freund vom Krieg, von Waffen, von Uniform. Ich will nur in Frieden leben, auch wenn mir oft das Gegenteil vorgeworfen wird.

Was vermissen Sie am meisten an Deutschland – außer Hela-Curry-Gewürzketchup?

Meine Vorliebe dafür hat mittlerweile die Runde gemacht, daher bekomme ich es oft mitgebracht. Ich kriege aber auch Currywurst in Dosen geliefert. Oder Currywurst-Gewürz. Dann muss ich nicht unbedingt nach Berlin zur Currywurstbude. Doch einmal die Kulinarik außen vorgelassen.

Gerne.

Trotz allem tragischem Rückblick ist Deutschland der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Ich habe sehr viele positive Erinnerungen, sowohl an Spandau als auch an den Wedding. Deutschland und Berlin ist ein Stück von mir, das ich nicht wegbekomme. In Israel lebe ich eine Art deutsches Leben weiter. Fast so wie deutsche Auswanderer auf Mallorca, die ihr Deutschsein nicht ablegen.

Herr Shalicar, vielen Dank für das Interview.

Verwendete Quellen
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa

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