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»Verfolgt war nicht nur Paulus«

Die kritischen Anmerkungen des NRW-Ministers und Juristen Diether Posser zum Böll-Beitrag »über die Baader-Meinhof-Gruppe und »Bild'«. (SPIEGEL 3 und 5/1 972) haben Heinrich Böll bewogen, noch einmal Stellung zu nehmen. Er gibt dem sozialdemokratischen Politiker Posser »im großen ganzen« recht.
aus DER SPIEGEL 6/1972

Bevor ich zu den Argumenten komme, mit denen Herr Dr. Posser mir gegenüber recht hat, möchte ich auf ein paar Punkte aufmerksam machen, die er übergangen hat: 1. meine Bemerkungen zum Hintergrund unserer Rechts- und Polizeigeschichte (siehe den Fall Schrübbers*); 2. meine Bemerkungen zu Adenauers Eingriff in den rechtsstaatlichen Ablauf des Strafvollzugs zugunsten der Wiederaufrüstung; 3. meine Bemerkungen über die Hintergründe der Währungsreform, diese »fürchterliche« Gleichheit, die dabei am Werke war.

Im großen ganzen, auch in einigen Details muß ich Herrn Dr. Posser recht geben. Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern. Ich gebe zu, daß ich das Ausmaß der Demagogie, die ich heraufbeschwören würde, nicht ermessen habe.

Ob ich sie hätte ermessen können. ist eine andere Frage, die zur Frage an Herrn Dr. Posser wird: Kann ich nicht bei einem Mann seiner politischen Verantwortung, Bildung und Sensibilität voraussetzen, daß er möglicherweise mehr von mir kennt als diesen Artikel; daß er die Ausdrucksunterschiede mit berücksichtigt?

Diese wilde Hetzerei, die nun in vielen Zeitungen und Zeitschriften Gelegenheit gibt. noch einmal und wieder einmal alle Steckbriefe etc. zu publizieren -- ich habe sie nicht vorausgesehen, und es mag sein, daß daran nicht nur der nach meinem Artikel begonnene Ruhland-Prozeß schuld ist, auch meine sprachlichen Mittel. Möglicherweise habe ich mehr demokratisches Selbstverständnis vorausgesetzt, als ich hätte voraussetzen dürfen.

Ich bin Schriftsteller, und die Worte »verfolgt«, »Gnade«, »Kriminalität« haben für mich andere Dimensionen, als sie notwendigerweise für einen Beamten, Juristen, Minister und auch für Polizeibeamte haben. Verfolgt war nicht nur der Heilige Paulus, verfolgt war auch Herr Fabeyer, verfolgt sein kann ein drei-

* Böll bezieht sich auf den SPIEGEL-Bericht in Nr. 5/1972, der Sich mit der Tätigkeit des heutigen Verfassungsschutz-Chefs Hubert Schrübbers als Ankläger zu NS-Zeiten befaßt

facher Raubmörder und ein Junge, der soeben aus einem Heim ausbricht und möglicherweise die Kasse mitnimmt.

Ich gebe gern zu, daß ich das Wort »verfolgt« nicht mit dem juristischen Terminus »gesucht« gleichzusetzen vermag, daß ich es auch existentiell und mit einem Anhauch von Metaphysik verwende, und in diesem Zusammenhang ist ein verfolgter Nazi für mich auch ein Verfolgter, wobei hinzugefügt werden muß, daß er"s leichter hat, Versteck und Freunde zu finden und daß die Nazis zur Erreichung ihrer politischen Ziele keine Bankraube unternehmen mußten: Der Bankier von Schröder und die deutsche Industrie rückten das Geld freiwillig raus.

Es ist nicht nur emotionell, wenn ich ein Wort außerhalb des Trockendocks verwende. Dieses Mißverständnis ist mein Fehler, nicht der von Herrn Dr. Posser: Ich hatte zuviel vorausgesetzt. Es kommt noch etwas hinzu, das ebenfalls nicht emotionell ist: Phantasie, die auch außerhalb des Trockendocks vor Anker liegt.

Einer lebensgefährlichen Emotion bekenne ich mich schuldig: meines Mitleids, das sich auf Polizeibeamte. Ulrike Meinhof, den Jungen erstreckt, der gerade mit der Kasse abgehauen ist, und auf die sehr jungen SS-Leute, deren Bestrafung in einem amerikanischen Gefangenenlager ich beobachtete, und darüber -- über mein Mitleid -- mögen Herr Dr. Posser und Horst Mahler -- wahrscheinlich ist es das einzige. das sie verbindet -- gemeinsam schallend lachen. Ich halte es auch für gefährlich, wenn ein so kluger Mann wie Dr. Posser generell Emotionen ablehnt: Die Psyche des Verfolgten jeglicher Art zu erkennen ist ohne Kenntnis des emotionalen Haushalts gar nicht möglich.

Außerdem muß ich Herrn Dr. Posser bitten, sich vorzustellen, daß mein Informationsstand nicht dem seinen entspricht. Ich habe zur Information nur die Zeitungen und das Fernsehen, und nach Überprüfung aller mir zugänglichen Publikationen war für mich nicht eindeutig zu erkennen. wer in welchem Fall nun wirklich zuerst auf wen geschossen hat. Ich habe meinen Artikel vor dem Ruhland-Prozeß geschrieben und nach der Erschießung Georg von Rauchs. Für die rechtsstaatliche Korrektheit dieser Erschießung hätte ich gerne den Beweis.

Ich danke Herrn Dr. Posser für die Belehrungen, die sein Artikel enthält, bitte ihn nur zu bedenken, daß ich mich nicht mit einer puristischen Definition der Termini »Gnade«, »verfolgt« und »kriminell« zufriedengeben kann. Ich muß als Autor in diesen Begriffen andere Dimensionen sehen, als ein Polizeibeamter, Jurist und Minister sie notwendigerweise sehen muß.

Recht, Gesetz. Politik. Theologie, Literatur haben eins gemeinsam: sie werden mit Worten gemacht. Es ist unvermeidlich, daß sich diese verschiedenen Wortbereiche aneinander reiben, daß sie einander kontrollieren und sich miteinander konfrontieren. Daran sind nicht nur »Emotionen« schuld, auch geistesgeschichtliche und intellektuelle Unterschiede. Ich bin sicher, daß eine neue Altersgruppe von Juristen peinlich auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit achtet, aber auch sie wissen, daß eine düstere Rechtsvergangenheit in unsere Rechtsgegenwart hineinragt.

Ich wiederhole meinen Dank an Herrn Dr. Posser, ich würde gern gelegentlich das Gespräch mit ihm privat, nicht öffentlich, fortsetzen. Privat, weil öffentlich Verkürzungen und Mißverständnisse unvermeidbar sind. Privat mag mir Herr Dr. Posser auch erklären, welch ein schrecklicher Vergehen darin liegen mag, in einer Gesellschaft, die sich weitgehend christlich definiert, um Gnade zu bitten und den Zustand des Verfolgtseins auch existentiell und metaphysisch und nicht rein moralisch zu definieren. Und ich hoffe, daß Ulrike Meinhof einsieht, daß, wenn gar nichts anderes sie zur Einsicht treibt, der Beginn des Ruhland-Prozesses auch politisch der geeignete Augenblick ist aufzugeben.

Nach meinen bisherigen Erfahrungen -- vor allem im Falle Detregger -- verspreche ich allen Politikern, mich vorläufig in nichts mehr einzumischen, zu nichts mehr zu äußern, jedenfalls so lange nicht, bis ich mir selber klar darüber geworden bin, wo sich in diesem Falle die Grenze der vielgepriesenen Liberalität gezeigt hat.

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