Kleptoparasiten der Lüfte

Fischbrötchen, ade: Warum sind Möwen eigentlich so frech?

Schnatterschnabel mit Appetit: Ob etwas essbar ist oder nicht, schauen sich Möwen auch von uns Menschen ab.

Schnatterschnabel mit Appetit: Ob etwas essbar ist oder nicht, schauen sich Möwen auch von uns Menschen ab.

Kiel/Büsum. Wenige Tiere genießen bei uns ein derart hohes Ansehen wie die Vögel. Knabbert die Blaumeise am Futterhäuschen oder der Wellensittich am Ohrläppchen ist die Freude groß. Adler zieren Landeswappen und ohne Eulen kommt kein Zaubermärchen aus. Doch unter den letzten Nachfahren der Dinosaurier gibt es einige Exemplare, für deren Sympathie sich vielerorts nur wenige erwärmen können: Tauben etwa oder Krähen. Die frechste dieser Art ist aber zweifellos die Möwe. Oder haben Sie Ihr Fischbrötchen schon mal an eine Dohle verloren?

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Fragt man bei Möwenexperten und Vogelschützern nach, wird klar: Die Pommestüte, die mir der Seevogel aus der Hand schnappt, ist nur die jüngste Entwicklung in einer wechselvollen Geschichte zwischen Mensch und Möwe. Eine Geschichte opportunistischer Allesfresser, deren natürliche Lebensräume vor allem in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen sind. Doch dazu später mehr. Zunächst die dringende Frage vieler Küstenbesucher: Warum stibitzen Möwen unser Essen, statt sich wie die Tauben mit den heruntergefallen Resten zu begnügen?

Was Sie über die Möwe wissen müssen

Wenn Diebstahl schmeckt: Kleptoparasitismus

„Manche Möwen sind Kleptoparasiten“, erklärt der Biologe Martin Rümmler, Referent für Vogelschutz beim Naturschutzbund Nabu. „Das heißt, sie zwacken anderen Tieren oft durch Diebstahl der Nahrung Energie ab, ohne etwas zurückzugeben.“ In der Fußgängerzone greift vor allem die Silbermöwe zu, bekannt für ihren grimmigen Blick und eine Flügelspannweite von bis zu eineinhalb Metern. Doch allein ist sie mit diesem Verhalten nicht.

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„Wenn zum Beispiel ein Kiebitz auf dem Acker fündig wird, probieren auch Lach- und Sturmmöwen, ihm die Beute abzuluchsen“, sagt der Ornithologe Stefan Garthe, Professor für Tierökologie und Direktor des Forschungs- und Technologiezentrums Westküste (FTZ) in Büsum. Unter Seevögeln sei dieses Verhalten generell nicht selten. Vor allem untereinander beklauen sich die Tiere gerne. Manche Arten – zum Beispiel die Schmarotzerraubmöwe, die in Schottland und Skandinavien vorkommt – lebten sogar fast ausschließlich davon.

„Der Grund, weshalb Silbermöwen häufiger bei unseren Fischbrötchen zulangen als etwa die kleinere Lachmöwe, ist schlichtweg eine Frage der Abwägung von Größenverhältnissen und Kollisionsgefahren“, erklärt der Seevogelexperte.

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Wie schütze ich mich und meine Pommes?

Mancherorts reagieren die Gastwirte mit ungewohnten Maßnahmen: In Warnemünde bietet eine Strandbar seit Kurzem eine „Möwenpolice“ an. Wer auf dem Gelände des Lokals sein Essen an eine Möwe verliert, erhält Ersatz. „Das ist genau der richtige Ansatz, man muss das mit Humor nehmen!“, sagt Stefan Garthe begeistert. Allerdings gibt es auch Vorsichtsmaßnahmen, die man selbst treffen kann, um zu verhindern, dass es zum Essensklau kommt.

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„Es hilft, sein Eis oder Fischbrötchen nicht übers freie Gelände zu tragen“, empfiehlt der Ornithologe. Am besten, man isst unter dem Dach oder einer Markise, zumindest aber an eine Wand gelehnt. Dann sei man vor Möwenangriffen ziemlich sicher. „Die Vögel kommen aus der Luft und wenn sie dann noch einkalkulieren müssen, nicht mit dem Dach zu kollidieren, lassen sie es lieber bleiben“, sagt Garthe.

Vogelschützer Rümmler empfiehlt Wachsamkeit und vor allem: Blickkontakt. „Möwen erkennen, ob sie angeschaut werden oder nicht.“ Eine Studie aus Großbritannien habe gezeigt, dass sich Möwen verzögert nähern oder ganz fernbleiben, wenn sie spüren, dass ein Mensch sie anguckt. „Unaufmerksames, abgewandtes Essen dagegen hat den gegenteiligen Effekt, denn sie greifen in der Regel von hinten an“, erklärt der Biologe.

Dass es sich bei der Sandale nicht um Essen handelt, erkennen die Möwen schnell, aber das ändert nicht zwangsläufig etwas an der Freude herauszufinden, wie es sich anfühlt, den Latschen mit dem Schnabel zu betasten.

Martin Rümmler,

Referent für Vogelschutz, Nabu Deutschland

Warum interessieren sich Möwen auch für Badelatschen?

Nun dürften viele Strandbesucher schon erlebt haben, dass sich Möwen nicht nur für Essen, sondern gelegentlich auch für Schirmmützen oder Schnürsenkel interessieren. Erst in letzter Sekunde gelang es dem Autor dieser Zeilen einst, die Sandalen eines Kindes von zwei Jungmöwen zurückzuerobern, als diese gerade versuchten, damit loszufliegen.

Oft schauen sich Möwen vom Menschen ab, ob man etwas, das sie nicht kennen, essen kann oder nicht. Sie finden es aber auch gerne selbst heraus, nehmen es in den Schnabel und kauen darauf herum. „Dabei kann es vorkommen, dass sie den Gegenstand mitnehmen, um ihn an einem anderen Ort ungestört zu inspizieren“, erklärt Stefan Garthe. Außerdem wollen sie verhindern, dass ihre Artgenossen mitbekommen, was sie da Spannendes gefunden haben – sonst wären sie es nämlich schnell wieder los.

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Vor allem Jungmöwen seien neugierig und hätten einen ausgeprägten Spieltrieb, ergänzt Vogelschützer Rümmler. „Dass es sich bei der Sandale nicht um Essen handelt, erkennen sie schnell, aber das ändert nicht zwangsläufig etwas an der Freude herauszufinden, wie es sich anfühlt, den Latschen mit dem Schnabel zu betasten.“

Dem ersten Papst zu Kopfe gestiegen: Von der Statue des Heiligen Petrus in Rom hat diese Möwe einen guten Ausblick auf mögliche Futterquellen.

Dem ersten Papst zu Kopfe gestiegen: Von der Statue des Heiligen Petrus in Rom hat diese Möwe einen guten Ausblick auf mögliche Futterquellen.

Verfüttern die Möwen unsere Pommes auch an ihren Nachwuchs?

Ganz gleich ob Pommestüte, Fischbrötchen oder Cheeseburger: Man hat das Gefühl, die Möwen fressen, was sie vor den Schnabel bekommen, in einer wahllosen Gier nach der nächstmöglichen Energiequelle. Dabei wissen sie durchaus zu unterscheiden: „Bei ihrem Nachwuchs achten sie auf die angemessene Ernährung und würden ihnen niemals Pommes mitbringen“, erklärt Martin Rümmler.

Sobald die Küken schlüpften, fügt Stefan Garthe hinzu, stellten Möwen ihre Ernährung um. „Sie sorgen dafür, dass die Küken alle nötigen Nährstoffe erhalten, zum Beispiel, um das Knochenwachstum anzuregen.“ Vor allem der Fischanteil sei währenddessen signifikant höher. Möwen scheinen also zu wissen, wie ungesund Fast Food für Kinder ist. Und sie sind gleichzeitig überzeugt, als Erwachsener eine Portion Pommes schon mal wegstecken zu können.

In den Fünfzigerjahren hat man Fischereiabfälle oft direkt hinter dem Kutter ins Meer gekippt, ohne dass dies auch nur eine einzige Möwe angelockt hat.

Stefan Garthe,

Professor für Tierökologie und Direktor des Forschungs- und Technologiezentrums Westküste (FTZ)

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Seit wann kommen uns die Möwen so nahe?

Man könnte meinen, spätestens seit Beginn der Urbanisierung im späten 19. Jahrhundert ist das konfliktbehaftete Aufeinandertreffen von Mensch und Möwe in deutschen Küsten- und Hafenstädten Alltag. Die Wahrheit überrascht: Erst in den Sechzigerjahren beobachtete man in Großbritannien zum ersten Mal überhaupt, dass Möwen regelmäßig auf Dächern brüten und das Essen der Menschen erbeuten. „In Schleswig-Holstein begannen die Möwen damit erst in den Neunzigerjahren, wenn auch in einer viel geringeren Anzahl als heute“, sagt Stefan Garthe. Und das, fügt er hinzu, obwohl wir die Dächer, die die Möwen heute nutzen, schon vor vielen Jahrzehnten auf unseren Häusern hatten.

Auch der Möwenkontakt der Seeleute habe sich verändert: „In den Fünfzigerjahren hat man Fischereiabfälle oft direkt hinter dem Kutter ins Meer gekippt, ohne dass dies auch nur eine einzige Möwe angelockt hat“, sagt Garthe. Ab den Siebzigerjahren hätten die Vögel den Kutter regelrecht belagert.

Frischer Fisch: Ein Kutter kommt von der Ostsee zurück nach Warnemünde und wird von zahlreichen Möwen begleitet.

Frischer Fisch: Ein Kutter kommt von der Ostsee zurück nach Warnemünde und wird von zahlreichen Möwen begleitet.

Starker Rückgang: Sind die Möwen bedroht?

Möwen benötigen Nahrung und sie benötigen Brutplätze. Sie sind – so viel wurde bereits deutlich – lernfähig und sie sind flexibel. Wenn natürliche Nahrung, zum Beispiel durch Überfischung und Verunreinigung der Meere, seltener zu bekommen ist, weichen die Vögel auf leichtere Beute aus: Abfälle auf Mülldeponien waren lange eine beliebte Fundstelle für Nahrung, bis man begann, die Müllhalden abzudecken.

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„Die einen Möwen fokussieren sich darauf, Miesmuscheln von Schiffen zu pulen, andere haben sich auf die Essensreste in der Fußgängerzone spezialisiert“, sagt Garthe. Und wieder andere verfolgen den Pflug auf dem Acker, der Insekten und Würmer zutage fördert. Damit können die Vögel viel kompensieren. Jedoch keineswegs alles. Garthe gibt zu bedenken: „Seit 1980 ist die Population der Silbermöwen an der Nordseeküste um die Hälfte zurückgegangen.“ Und in ganz Europa nehme die Möwenpopulation ab.

Eine Möwe sitzt auf einer Mauer vor einem Fischimbiss. Die Vögel der Meere rauben gern die Fischbrötchen von Touristen.

Klauen Touristen die Pommes: Dänische Grenzstadt gibt Möwen zum Abschuss frei

In der dänischen Stadt Sonderburg an der deutschen Grenze werden härtere Saiten aufgezogen: Zum Schutz der Touristen und Einwohner werden Möwen zum Abschuss freigegeben.

Warum brüten die Möwen auf unseren Dächern?

Ähnlich flexibel wie bei der Futtersuche zeigen sie sich bei der Wahl von Brutplätzen. „Kürzlich wurde eine Heringsmöwe entdeckt, die auf einem Flachdach in Hamburg brütet, deren Markierung zeigte, dass sie selbst auf Helgoland zur Welt kam“, berichtet der Tierökologe Garthe. „Sie tauschte ihren natürlichen Lebensraum freiwillig in einen urbanen ein – das ist selten, aber es kommt vor.“ Meistens geschieht dies unfreiwillig, wie ein aktuelles Beispiel aus Kiel zeigt.

780 Lachmöwenbrutpaare haben das Dach der Uni-Mensa in Beschlag genommen. Aufgrund von Kot und Kadavern musste der Außenbereich gesperrt werden. Durch die Lüftungsanlagen könnte auch für den Betrieb im Inneren Gesundheitsgefahr bestehen, befürchten Studierende und Verwaltung. Stefan Garthe kennt die Situation, in der er selbst schon als Sachverständiger zurate gezogen wurde.

Aus Mangel an Alternativen: Auf dem Dach der Mensa der Kieler Christian-Albrechts-Universität sind die Möwen sicher vor Fressfeinden.

Aus Mangel an Alternativen: Auf dem Dach der Mensa der Kieler Christian-Albrechts-Universität sind die Möwen sicher vor Fressfeinden.

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Die „Lachmöwenplage“ auf dem Kieler Campus

„Möwen sind Bodenbrüter und benötigen freie Naturflächen mit flacher Vegetation, auf denen sie vor Bodenräubern relativ sicher sind“, erklärt der Möwenexperte. Freiflächen würden durch Baumaßnahmen und Landwirtschaft immer geringer, die Vegetation sprieße durch den Klimawandel oft noch bevor die Vögel gebrütet haben, und schließlich machten nicht nur Füchse und Ratten den Tieren zu schaffen, sondern auch invasive Arten wie Waschbären und Marderhunde.

Dieses Zusammenspiel – so erklärt Ornithologe Garthe – spielt auch bei der Kieler Situation eine Rolle: Südlich der Stadt liegt der Vorort Molfsee, bei dem es eine „Möweninsel“ gibt, die heute kaum mehr ist als ein Name. Denn Vegetation und ein hohes Rattenvorkommen hätten die Vögel von dort vertrieben. Viele von ihnen ließen sich zehn Kilometer nördlich auf dem Universitätsgelände nieder. Zunächst auf dem Dach der Uni-Bibliothek, doch als die renoviert wurde, wichen die Tiere auf die Mensa aus.

„Auf dem Bibliotheksdach waren sie eigentlich gut aufgehoben“, berichtet Garthe. Allerdings werden dort nun Photovoltaikanlagen installiert, was es für die Tiere ungeeignet macht. Im Moment wird untersucht, welche nahen Dächer stattdessen infrage kommen und wie man sie herrichten könnte, damit sich die Kolonie im kommenden Jahr dort niederlässt statt auf der Mensa.

Möwe und Mensch: Wie gelingt das Zusammenleben?

Möwen mögen flexible Allesfresser sein, Opportunisten in der Wahl ihres Brutgebietes. Dennoch haben sie feste Ansprüche, betont Nabu-Vogelschützer Martin Rümmler: „Lachmöwen sind Koloniebrüter mit festen Ansprüchen an ihre Habitate – Habitate, die aufgrund unserer Art zu leben und zu wirtschaften immer seltener werden.“ Fühlten sich Lachmöwen in menschlicher Nähe wohl, dann sei das eigentlich ein ähnlich schöner und erfolgreicher Moment, wie wenn eine Meise einen Brutkasten annimmt, den man im Garten aufgehängt hat, findet der Biologe.

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Dass man sich darüber wenig freuen könne, wenn der Lieblingsplatz vor der Mensa mit Kot beschmutzt ist, kann er gleichwohl nachvollziehen. Daher helfe nur eines: Natürliche Habitate frei machen und vor Bodenräubern wie Waschbären und Marderhunden schützen, damit die Möwen vielleicht dorthin weiterziehen. Denn so eigenwillig und flexibel uns dieser besondere Seevogel auch erscheinen mag: „Am Ende entscheidet die Möwe selbst“, sagt Martin Rümmler. „Aber wir bestimmen, zwischen welchen Möglichkeiten sie die Wahl hat.“

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